Ziemlich genau 30 Jahre ist es her, als in Berlin am 9. November 1989 die Mauer fiel. Die anschließende Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland sollte als ein zentrales Ereignis in die Weltgeschichte eingehen. Heutzutage kennen Jugendliche den Mauerfall lediglich noch aus Büchern und Berichten – so auch die Schüler des Friedrich-Hecker-Gymnasiums.
In der Aula der Radolfzeller Bildungseinrichtung erzählte jüngst Zeitzeuge Mike Michelus, geboren 1966 in Ost-Berlin, von seinem Leben in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Er berichtete, wie er sich anfangs vom System blenden ließ, sich später politisch gegen den Staat engagierte und daraufhin inhaftiert wurde.

„Bei uns in der Region zum Beispiel ist es nicht mehr so ein großes Thema, aber vielleicht in anderen Teilen Deutschlands“, meinte die 15 Jahre alte Schülerin Jane Bosch zum Fall der Berliner Mauer. Sie selbst denke nicht in Schubladen oder unterscheide zwischen Ost und West. Möglicherweise sei das aber noch bei vielen anderen Menschen der Fall.

Auch Rufus Plaga, ebenfalls 15 Jahre alt, habe keinen eigenen Bezug zum Thema. „Man merkt schon, dass nach wie vor darüber gesprochen wird und es etwas Großes in der deutschen Geschichte ist“, so der Gymnasiast. Neben den Inhalten, die in der Schule vermittelt würden, lerne er über die DDR und die Wiedervereinigung auch von seinen Eltern und Großeltern etwas.

Sportunterricht mit Handgranaten
Die ganz persönliche Lebensgeschichte von Mike Michelus bot den Schülern einen zusätzlichen Einblick in die Historie ihres Heimatlandes. Anfangs sei der Zeitzeuge ziemlich begeistert gewesen von seinem Zuhause. „Meine Mutter arbeitete als Krankenschwester, sie hatte nur wenig Zeit. Gerade die moralische und ethische Erziehung fand bei mir deswegen vor allem in der Schule statt“, schilderte er. Seine Lehrer seien teilweise überzeugte Kommunisten gewesen. Das habe auch ihn geprägt. „Ich hinterfragte Dinge nicht, glaubte sie einfach und machte wie fast alle in der Klasse mit – ohne zu wissen, was Kommunismus überhaupt ist.“
Folglich sei Michelus in Vereinigungen wie der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Sport und Technik aktiv gewesen. Im Sportunterricht habe er beispielsweise Weitwerfen mit einer Handgranaten-Attrappe geübt. Etwas anderes kannte man dem Zeitzeugen zufolge nicht. „Uns wurde eingetrichtert, dass der dritte Weltkrieg kurz bevorsteht, also mussten wir vorbereitet sein.“ In der DDR gab es Wehrpflicht. Michelus sei davon nicht begeistert gewesen, wie er sagte. Auf Druck habe er sich dennoch für drei Jahre verpflichtet. „Ich wurde mit unangenehmen Fragen gelöchert, habe mich verbal in die Ecke gedrängt gefühlt.“
Nach und nach habe Michelus‚ makelloses Bild von einem lebenswerten Staat angefangen zu bröckeln. Als er sich beispielsweise mit dem Anfertigen und Verteilen von Flugblättern für den Umweltschutz stark machte oder ein seiner Meinung nach harmloses Schultheaterstück verboten wurde, hinterfragte er die DDR fortan, so der gebürtige Berliner. „Der Klimawandel wurde kleingeredet. Ich hatte mit diesem Land nichts mehr zu tun, war nicht mehr damit einverstanden“, erklärte Mike Michelus. Zu dieser Zeit habe er auch das Interesse des Ministeriums für Staatssicherheit auf sich gezogen, die von nun an fleißig Akte über ihn führen sollten.
Irgendwann habe Michelus Kontakte in die Punk-Szene bekommen, lernte andersdenkende Menschen kennen und „landete von einem Tag auf den anderen statt dem offiziellen Leben im illegalen Untergrund-Leben“. Ihm zufolge fühlte er sich lebendig und war nun anders als vom System vorgeschrieben. Gemeinsam mit einer Freundin, die laut Michelus verhaftet werden wollte, weil sie sich erhoffte, später vom Westen freigekauft zu werden, habe er eine Aktion auf dem Alexanderplatz durchgeführt. „Wir schminkten uns nur und machten im Sitzen auf eine Zeitung aufmerksam.“
Inhaftierung endet mit Freikauf
Dafür seien schließlich beide verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden. Michelus verurteilte man zu einem Jahr und drei Monaten. An seinem 20. Geburtstag sei er 1986 dann freigekauft worden. Vom Gefängnis ging es laut seinen Erzählungen direkt in den Westen Deutschlands – ohne Gepäck und Familie. Für die DDR habe er eine Einreisesperre von 13 Jahren erhalten, unwissentlich, dass es diesen Staat bald nicht mehr geben wird. Heute lebt Mike Michelus in Hechingen, der drittgrößten Stadt im Zollernalbkreis. „Von einem Rechtsstaat kann bei der DDR nicht gesprochen werden. Die Demokratie ist ein junges Pflänzchen, das regelmäßig gegossen werden muss. Setzt euch dafür ein“, gab er den jugendlichen Gymnasiasten mit auf den Weg.
Schüler hören gespannt zu
Die Schüler des Friedrich-Hecker-Gymnasiums zeigten im Anschluss an Michelus‚ Vortrag weiteres Interesse an seinem persönlichen Schicksal und der DDR im Allgemeinen. Sie stellten Nachfragen zu seinem Leben, wollten nähere Details wissen und diskutierten untereinander. Der 16-jährige Tobias Lingk etwa sagte: „Heute wird nicht mehr zwischen Osten und Westen unterschieden. Im Alltag ist es auf jeden Fall nicht mehr so präsent wie früher.“ Seine Meinung rühre aber womöglich daher, dass seine Familie komplett aus dem Westen stamme.

Der gleichaltrige Daniel Fernandes vertrat indes eine klare Haltung. Zwar gebe es die Berliner Mauer als Objekt nicht mehr und man könne sich hierzulande mittlerweile frei bewegen, aber: „Menschen werden auch heute noch oft als Ossi abgestempelt, zum Beispiel wegen ihres Akzents.“
