Der Stein sieht im Querschnitt fast wie eine Baumscheibe aus. Wie Jahresringe im Holz durchziehen feine, farblich sehr unterschiedliche Sedimentschichten den etwa zehn Zentimeter großen Gesteinsbrocken. „Das dürften Ablagerungen aus mindestens 100 Jahren sein“, erklärt Michael Rasser.

Er steht an einem tief ausgehobenen Loch oben am Schiener Berg auf der Halbinsel Höri am Bodensee. Die frei liegenden Sedimentschichten an der Gesteinswand dürften über Jahrtausende angewachsen sein. Der Paläontologe interessiert sich jedoch mehr für die schwarzen Ablagerungen zwischen den Schichten. Das könnten Fossilien sein. Und die sind für Rasser ein Puzzleteil, um zu verstehen, wie sich in der Erdgeschichte das Klima auf Flora und Fauna ausgewirkt hat.
70 Jahre nach den letzten Grabungen in Öhningen sind die „Fossiljäger“ zurück. Genau genommen haben es Michael Rasser und sein Team diesmal aber nicht nur auf versteinerte Tiere und Pflanzen abgesehen. „Wir wollen das Ökosystem des Kratersees, den es hier vor etwa 13 Millionen Jahren gab, erforschen“, sagt der Wissenschaftler vom Naturkundemuseum Stuttgart. Denn anhand der Fossilien, die hier in außergewöhnlicher Detailschärfe vorhanden sind, lässt sich die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt in und um den See in den unterschiedlichen Klimazyklen sehr gut interpretieren.

Schon vor 400 Jahren wurden am Südhang des Schienerbergs nicht nur Kalk und Gesteine abgebaut, sondern dabei auch erste Fossilien ans Tageslicht befördert. Später gruben Wissenschaftler in den Steinbrüchen gezielt nach versteinerten Tieren und Pflanzen. Viele Originalfunde sind im Fischerhaus-Museum in Wangen am Ufer des Bodensees ausgestellt – seit Jahrzehnten eine Touristen-Attraktion im Ort.
Michael Rasser erklärt, wie die ergiebige Fossilfundstätte entstand. Was hier wie in Stein gezeichnet erscheint, lebte vor etwa 13 Millionen Jahren im Tertiär. Das Klima war subtropisch feucht, die mittlere Jahrestemperatur lag bei etwa 18 Grad, 7 Grad mehr als heute. Eine Zeit, in der Elefanten, Antilopen oder Krokodile in der heutigen Seeregion zuhause waren. „Die Tier- und Pflanzenwelt war extrem divers“, erzählt Michael Rasser. Rund 1500 Arten, davon allein 800 Insekten, listeten Naturwissenschaftler aus den Öhninger Schichten auf.


Dass Blätter, Insekten, Fische, Abdrücke von Elefantenfüßen oder ein berühmter Riesensalamander über Millionen von Jahren in den Steinschichten überdauerten, ist einem Vulkan zu verdanken. Der sprengte einen Krater in das Molassebecken. Dieser füllte sich mit Wasser, wodurch ein See entstand. Feinkörniger Kalk und Mergel, also feines Gestein, bedeckten Ablagerungen von Tier- und Pflanzenresten am Seegrund. In Jahrtausenden versteinerten sie zu detailreichen Fossilien tief unter der Erdoberfläche. Erst die sich vorschiebenden Gletscher der Eiszeit, die die obersten Schichten quasi abschmirgelten, legten diese Areale wieder frei.

Ab etwa 1820 wurden in zwei Steinbrüchen immer wieder Fossilien abgebaut. Die letzten Grabungen nahm das Geologische Institut der Uni Freiburg vor, stellte sie 1958 aber ein, nachdem der obere von beiden Steinbrüchen verschüttet wurde.
Zweiwöchige Probegrabung bis in vier Meter Tiefe
Nun war ein etwa vier Meter tiefes Loch wieder offen. Wo genau die Wissenschaftler ihre zweiwöchige Probegrabung vorgenommen haben, wollen sie nicht an die große Glocke hängen. Zu oft haben Fossiljäger in den vergangenen Jahrhunderten versucht, sich selbst zu bedienen. Das Interesse an neuerlichen Funden, die heute mit modernen Methoden analysiert werden können, ist groß. Deshalb unterstützt der Verein des Fischerhaus-Museums die Probegrabung genauso wie der Industrieverband Steine und Erden.

Michael Rasser und sein Team hegen große Hoffnungen, dem urzeitlichen Kratersee mit seiner Tier- und Pflanzenwelt im Tertiär noch viele Geheimnisse zu entlocken. „Man weiß noch sehr wenig über den See, eigentlich fast gar nichts“, sagt der Wissenschaftler. Was passierte nach der Explosion des Vulkanausbruchs? Wie tief war der See, wie mächtig sind die Ablagerungen? Gibt es noch unentdeckte Schichten? Welche Fossilien schlummern noch unentdeckt im Gestein?

Frühere Grabungen erreichten eine Tiefe von etwa acht Metern. Diesmal soll es viel tiefer gehen, unter anderem mit Kernbohrungen. „Wir hoffen, wenn wir bis zur untersten Sedimentschicht durchdringen, auch ziemlich nahe am Vulkangestein zu sein. Dann wissen wir, wann der Vulkankegel entstanden ist“, erklärt Michaela Spiske. Sie ist Geologin und Sedimentologin am Naturkundemuseum in Karlsruhe und will in etwa zwei Jahren mit Michael Rasser erneut in den Öhinger Schichten graben.

Geplant ist ein Verbundprojekt, das rekonstruieren soll, wie dieser See früher ausgesehen hat. Dabei geht es nicht nur um frühere Ökosysteme, sondern auch um Paläoklimatologie. Die Sedimentschichten und die darin eingelegten Fossilien sind steinerne Zeugnisse der Erdgeschichte und gleichzeitig ein natürliches Archiv, das über klimatische Verhältnisse in der Vergangenheit erzählt.
Klima-Geschichte im Stein ablesen
Mit modernen Messmethoden lassen sich die Klimazyklen im Gestein ablesen. Wissenschaftler können so Ereignisse des Klimawandels in den verschiedenen Erdzeitaltern abbilden. Damit wird die Vergangenheit zum Schlüssel für die Zukunft. „Das Wissen wird genutzt, um Klimamodelle nachträglich zu berechnen und so für die Zukunft zu entwickeln“, erklärt Michael Rasser.
Was sie beim Neuaufschluss der Erde zu Gesicht bekamen, sei vielversprechend. „Für mich als Geologin ist das hier aber noch viel spannender als für die Fossiljäger“, sagt Michaela Spiske lachend. Sie freut sich auf die Zusammenarbeit mit den Stuttgartern.