Klischees mag Ann-Veruschka Jurisch nicht. Warum traue man der FDP nicht zu, eine durchdachte Sozialpolitik zu präsentieren? Sie selbst wolle Verantwortung tragen für alle Menschen im Kreis, dazu gehören auch die Menschen, die im Tafelladen einkaufen oder sich hier zum kostenlosen Mittagstisch anstellen.

Man glaubt es der Politikerin. Behutsam lässt sie sich von Udo Engelhardt, Vorsitzender der Tafeln im Kreis Konstanz, durch den Singener Tafelladen führen – hier hat die Tafelbewegung im Kreis ihren Ursprung. Vor dem Geschäft warten bereits mehrere Kunden, obwohl es noch dauern wird, bis geöffnet ist. „Warum kommen sie so frühzeitig?“ fragt die studierte Juristin. „Es geht um Kommunikation“, sagt Engelhardt.
„Die Tafeln sind einer der wenigen Orte, an dem ‚arm‘ und ‚reich‘ zusammenkommen – die Helfer aus einem bürgerlichen Milieu und die Bedürftigen“, genau diese Begegnung finde in anderen Zusammenhängen kaum statt.
Wie die Tafel funktioniert
Wer Kommunikation sucht und seine Inhalte mit der Realität abgleichen will, ist hier also genau richtig. Jurisch will vieles wissen: Ob die Kunden die Produkte, die sie zu einem symbolischen Preis erwerben können, auswählen dürfen? Ja, erläutert Thomas Klöckner, Leiter der Singener Tafel. Nur wenn eine (begehrte) Ware extrem knapp sei, werde sie kontingentiert. Brot ist meist genügend da – aber von den beliebten süßen Stücken gibt es an diesem Vormittag nicht viele.

Bereitwillig berichtet er, wie er selbst dazu kam, für die Tafel zu arbeiten. „Ich war vorher 20 Jahre bei Daimler – da habe ich gespürt, dass ich noch etwas anderes brauche.“

Ein Blick in die Küche: Köchin Perjo Pratuschek ist bereits morgens dabei, die Speisen für den Mittagstisch zuzubereiten. Hungrig wird hier niemand bleiben.
Muss es denn nun wirklich sein, dass in einem wohlhabenden Land wie Deutschland Kinder arm sind? Ihre Eltern sich morgens am Tafelladen anstellen, um genügend Lebensmittel kaufen zu können? Ein Unding, da sind sich Jurisch und Engelhardt einig. Es liegt daran, dass die wohlhabenden zehn Prozent der Bevölkerung etwa 70 Prozent des Vermögens besitzen, sagt Engelhardt. Dazu schweigt Jurisch.

Ideen zur Verbesserung der Lage gibt es: Die FDP will ein Kinder-Chancengeld, das aus drei Säulen besteht: einem Grundbetrag (Kindergeld), den alle Familien erhalten, einem Flexbetrag, abhängig vom Gehalt der Eltern. Damit ist Engelhardt einverstanden. Drittens sollen Kinder über einen digitalen Zugang Zugriff zu Bildungs- und Teilhabeangeboten erhalten, zum Musikunterricht oder zum Sportverein. „Die dritte Säule halte ich für weltfremd“, sagt Engelhardt. Schon allein der digitale Zugang sei Hürde genug, dass die Eltern dieser Kinder solche Angebote nicht nutzten. Die bürgerliche Welt stelle sich Teilhabe oft zu selbstverständlich vor.
„Aber wie geht es dann, Herr Engelhardt?“, will Jurisch wissen und man nimmt ihr ab, dass sie an Lösungen interessiert ist. Es sei eben komplizierter, zunächst gelte es, das Vertrauen der Familien zu gewinnen, die Unterstützung brauchen. „Wir machen viel Quartiersarbeit“, ergänzt Engelhardt. Dazu braucht es Sozialarbeiter. Menschen eben, die beim Ausfüllen eines digitalen oder auch analogen Antrags helfen.

Außerdem gehörten Grundschulen und Kindergärten besser gefördert, mit mehr und gut bezahltem Personal ausgestattet, insbesondere jene, die in sozial schwächeren Vierteln liegen. Da sind sich Jurisch und Engelhardt einig.
Bei der Sozialhilfe oder Hartz IV will die FDP die Empfänger fördern und fordern. Es soll möglich sein, Geld hinzuzuverdienen und es auch behalten zu dürfen – so weit, so gut, sagt Engelhardt. „Ich habe aber ein Problem damit, dass Menschen, die nicht so mitmachen wie das System es verlangt, mit Kürzungen rechnen müssen. Das führt zum Abrutschen.“ Besonders oft erlebe er es bei Jugendlichen, die in der Folge häufig obdachlos würden.
Das will Jurisch nun auch nicht verantworten, und doch: „Es muss für jene, die sich anstrengen, aus ihrer Lage herauszukommen, doch einen Anreiz geben, ein Signal, dass es sich lohnt.“
Und wieviel Geld reicht nun zum Leben? Das will Engelhardt von einer Politikerin, die in den Bundestag möchte, schon hören. Welche Summe schlägt sie für den Mindestlohn vor? Oder den Sozialhilfesatz? Aber Ann-Veruschka Jurisch will sich nicht festlegen. Der Mindestlohn müsse erhöht werden, soviel sei klar, aber die genaue Höhe solle bitte eine unabhängige Kommission festlegen, das gehöre nicht in die Hände von Politikern.
Bei der Wohnbaupolitik bleibt Ann-Veruschka Jurisch bei ihren Leitlinien: Hilfe ja, aber keine zu weitgehenden Eingriffe in die Marktwirtschaft. Die Mietpreisbremse mache alles nur schlimmer, es werde dadurch weniger gebaut. Dass die Mieten im Kreis Konstanz zu hoch sind, sei wiederum Fakt. Da könnten nur Wohngeld, städtische Wohnbaugesellschaften und eine vorausschauende Baupolitik der Kommunen helfen.
Also wenig zu tun für die Bundespolitik? Konzerne in der Wohnbaubranche wie Vonovia kritisiert sie, sie kann ihnen aber auch etwas abgewinnen: „Immerhin stellen diese Unternehmen Wohnungen mit relativ niedrigen Mieten zur Verfügung – wer soll es denn sonst tun?“
„Werde mich sehr für Bildung und Chancen einsetzen“
Ob die Kunden der Singener Tafel sich vorstellen können, der FDP-Kandidatin ihr Vertrauen zu schenken? Das bleibt das Wahlgeheimnis jedes einzelnen. Ann-Veruschka Jurisch merkt selbst, dass sie nicht jedem, der hier einkauft, etwas Substanzielles anbieten kann. „Ich werde mich aber sehr für Bildung und Chancen einsetzen, sollte ich in den Bundestag kommen“, sagt sie.
Kinder und Jugendliche profitierten davon in jedem Fall. Den Älteren helfe das zwar nicht direkt. Sie habe aber großen Respekt vor ihnen. Es sieht ganz nach einer Aufgabe aus, in die sich die 49-Jährige einzuarbeiten bereit wäre.