Quizfrage: Wozu kann man einen Bauzaun und ein zwei Kilometer langes rot-weißes Absperrband verwenden? Man kann Kunst erschaffen, die Grenzen öffnet. Das ist für Bert Binnig und seine drei Freunde Friedrich Haupt, Stephan Kühnle und Torben Nuding die einzig richtige Antwort.

Als sie den Grenzzaun sehen, der neun Wochen Konstanz und Kreuzlingen während der Corona-Pandemie trennt, ist ihnen sofort klar: Der Zaun ist eine große weiße Leinwand – und sie kann nicht weiß bleiben. Die Idee zu dem Schriftzug „Kreuztanz„ wird geboren.
Grenzzaun als Provokation
„Der Zaun war eine Provokation“, sagt Binnig, der kreative Kopf hinter dem Schriftzug. Der Bauzaun sei ein Sinnbild für eine seltsame und bedrückende Situation gewesen. „Konstanz und Kreuzlingen ist ein Lebensraum. Und plötzlich war der geteilt“, sagt Binnig.
Der Mann mit dem Lausbuben-Lächeln, fünf-Tage Bart und Capi steht mit seinen Freunden Friedrich Haupt und Stephan Kühnle (Torben Nuding hatte leider keine Zeit) am Ort des Geschehens: auf der Kunstgrenze auf dem Areal in Klein Venedig in Konstanz.
In Klein Venedig erinnert nichts mehr an die Grenze
Nichts erinnert am vergangenen Freitagabend daran, dass dort vor einem Monat noch eine Grenze Deutschland und die Schweiz getrennt hat. Es sieht aus wie immer: Die roten Tarotzeichen des Künstlers Johannes Dörflinger stehen in Reih und Glied.

Ein paar Kinder nutzen sie als Klettergerüst. Spaziergänger überschreiten die Grenze, ohne nachzudenken. Einige Touristen fotografieren die Schilder „Landesgrenze“. So haben sich das Binnig, Haupt, Kühnle und Nuding auch gewünscht.

Polizisten beobachten Künstler bei der Arbeit
Aber am Morgen ihrer „Kreuztanz„-Mission war alles anders. „Ich erinnere mich noch sehr gut an den Polizeisprinter, der am Ufer stand. Einer der Polizisten streckte seine Füße in die Morgensonne“, erzählt Haupt. Alle drei lachen spitzbübisch.
Der Morgen der Aktion war für alle spannend. „Wir wussten ja nicht, wie die Polizisten reagieren würden. Wir hatten uns auch ausgerechnet, dass wir Bußgelder kassieren könnten. Wie viel waren das zu der Zeit? 250 Euro pro Person?“, fragt Haupt in die Runde. Alle nicken.

Buchstaben haben die Künstler zuvor geübt
Sie hatten einen ausgefeilten Plan, wie sie aus dem deprimierenden Grenzzaun ein Symbol der Hoffnung machen konnten. „Ich bin Designer“, sagt Bert Binnig, „ich hatte einen Typenplan. Ich wusste genau, wie viele Zaunelemente wir brauchen und wie viel Abstand wir zwischen uns halten können.“ Am 19. April, dem Tag der Aktion, durfte man laut Corona-Verordnung nur zu zweit draußen unterwegs sein. Zudem galt der Mindestabstand von 1,5 Meter.
Pro Zaun plante Binnig zwei Buchstaben. „Wir haben ein paar Nächte vor der Aktion nachts heimlich an Baustellenzäunen einzelne Buchstaben geprobt“, sagt Kühnle. Das K, E, O und Z seien besonders kompliziert gewesen.
Vier Stunden dauerte die Umsetzung des Schriftzugs
Wenn Binnig, Kühnle und Haupt über ihre Kunstaktion sprechen, strahlen sie miteinander um die Wette. Nie hätten sie mit einem so grenzüberschreitenden Erfolg ihrer Guerillakunst gerechnet. „Als ich morgens das Haus verlassen habe, habe ich zu meiner Familie gesagt: Entweder bin ich in 15 Minuten wieder da oder in vier Stunden. Zum Glück waren es dann vier Stunden“, sagt Binnig.

Die Polizeibeamten hätten das Künstler-Quartett zwar genau beobachtet, aber machen lassen. „Erst als wir uns in der Mitte der Buchstaben getroffen haben, sind sie eingeschritten und haben gesagt: Vier Leute dürfen nicht zusammen sein. Also haben sich zwei von uns ins Gras gesetzt“, schwärmt Kühnle.“ Das sei ok gewesen.
Zaun kommt ins Museum Haus der Geschichte nach Stuttgart
Als dann die Grenze Mitte Mai abgebaut wurde, waren Binnig, Kühnle, Haupt und Nuding natürlich auch vor Ort. „Das war ein großartiger Moment“, erinnert Haupt. „Es war so eine gute Stimmung“, sagt Kühnle. Binnig wusste zu diesem Zeitpunkt schon: Sein Zaun mit dem Schriftzug kommt ins Museum Haus der Geschichte nach Stuttgart.
„Jemand vom Museum hat mich Anfang Mai angerufen und gefragt, ob ich der Typ mit dem Zaun bin. Er hat es allerdings etwas anders formuliert“, erinnert sich Binnig und wieder schleicht sich das verschmitzte Lächeln auf sein Gesicht. „Kreuztanz ist gelebte Realität“, sagt er – das habe ihre Kunstaktion deutlich gezeigt.
