Die Ampelkoalition hat ein aufregendes erstes Jahr hinter sich. In wenigen Sätzen: Wie würden Sie es bewerten?

Lina Seitzl: Es ist ein sehr herausforderndes Jahr gewesen. Das bedeutete, dass wir sehr schnell sehr viele zentrale Entscheidungen treffen mussten. Das führt zum einen zu einer hohen Arbeitsbelastung, zum anderen zu Konflikten. Letztendlich haben wir immer zu Lösungen gefunden, ich glaube, zu guten Lösungen. Ich finde es erstaunlich, dass wir nicht nur im Krisenmodus agieren, sondern Dinge abarbeiten, die wir uns vorgenommen haben; das Bürgergeld, den Mindestlohn, Einwanderung, Fachkräftesicherung. Das sind große Pakete, die wir trotz allem umsetzen.

Ann-Veruschka Jurisch: Ich nehme vor allem das gemeinsam Geleistete wahr. Wir haben in dem Jahr viel erreicht – beim Bewältigen der Krise sowie bei Projekten aus dem Koalitionsvertrag.

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Der Ausbau der B33 zieht sich in die Länge, vor allem die Tunnel bereiten Probleme. Der Bau des Tunnels in Hegne erweist sich als besonders problematisch. Warum ist es so schwierig, das Planungsrecht so zu ändern, dass auch Alternativen möglich sind?

Jurisch: Wir haben ein Land übernommen, in der die Infrastruktur in weiten Teilen nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Der bisherige Bau der B33 hat sehr lange gedauert.

Seitzl: Es sind zum einen die Genehmigungs- und Planungsbeschleunigung. Dann aber auch bürokratische Strukturen. Wenn mal etwas genehmigt wurde, ist es schwierig, es wieder zu ändern. Ich glaube, dass wir auf Bundesebene hier vorankommen müssen. Wir sind gerade in den Beratungen, um gesamthaft daran zu arbeiten. Ob das für den Tunnel in Hegne die große Neuerung ist, ist schwer zu sagen.

Kann sich das denn noch in irgendeiner Weise auf diesen Tunnelbau auswirken?

Seitzl: Ich glaube, dass man das noch nicht sagen kann. Das Gesetz steht noch nicht. Genehmigungsverfahren, die sich über Jahrzehnte verfestigt haben, kann man nicht von heute auf morgen ändern.

Mit der Gäubahn kommt man nicht mehr zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Region, der Kreis Konstanz, fühlt sich abgehängt. Wie können Sie als Abgeordnete die Bahnpolitik beeinflussen, damit sich die Anbindung verbessert?

Jurisch: Wir waren bei der SBB in der Schweiz und haben den Unterschied zwischen den zwei Staaten gesehen. Dort wird seit Jahrzehnten in den Unterhalt der Bahnen investiert: ein grandioser Ausbaustandard. Dagegen hinken wir um Jahrzehnte hinterher. Die Bundesregierung hat einen Ausbaustand übernommen, bei dem gerade bei der Gäubahn in den vergangenen Jahren gar nichts passiert ist. Das ist eine schwierige Lage. Jetzt passiert endlich etwas, der Ausbau um Stuttgart herum wird gemacht, was für uns im Süden aber zunächst Nachteile mit sich bringt. Man muss jetzt die Lösung finden, die den geringsten Eingriff darstellt. Daran wirken wir als Abgeordnete mit.

Wann könnte sich generell etwas ändern für unsere Region?

Seitzl: Im Moment geht es um die Elektrifizierung der Bodenseegürtelbahn, die Kosten sind immens. Die Digitalisierung der Stellwerke ist ein Thema, es folgen die Ausbauschritte der Gäubahn, die nötig sind für die Anbindung an den Stuttgarter Hauptbahnhof. Es ist erschütternd, welche Zeiträume Planung und Umsetzung in Anspruch nehmen: Es dauert ewig. Ich glaube, dass die Leute bereit sind, vorübergehend Unannehmlichkeiten anzunehmen, wenn sie sehen, dass es vorangeht. In diesem Jahr ist die Schwarzwaldbahn nicht zuverlässig gefahren, die Gäubahn fährt mehr oder weniger zuverlässig. Auf der Hochrhein- und der Bodenseegürtelbahn gab es teilweise zeitgleich Reparaturen. Zwischenzeitlich hat man das Gefühl, dass man hier nicht mehr wegkommt. Diese Lage verringert die Akzeptanz. Zudem ist in Berlin vielen nicht bekannt, dass es bei der Gäubahn um eine internationale Strecke geht – und nicht um ein Bähnle in Baden-Württemberg. Es ist eine internationale Strecke und es gibt daher internationale Verpflichtungen.

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Wie bewerten Sie das 49-Euro-Ticket persönlich? Die Regionalbahnen gelten zum Teil als unzuverlässig – wie die Schwarzwaldbahn. Wie attraktiv ist das Ticket hier dann noch?

Jurisch: Ich finde es einen großen Fortschritt in der Mobilität der Bürger. Es ist aber wichtig, dass auch das Land seine Verpflichtung der Finanzierung im ÖPNV nachkommt: Damit das ganze Projekt überhaupt starten kann. Das Ticket ist attraktiv und hat viele Vorteile im Nahverkehr. Und der Nahverkehr funktioniert hier eigentlich ganz gut.

Seitzl: Es ist insbesondere für Berufspendler attraktiv, die zwischen Verkehrsverbünden pendeln. Also zum Beispiel zwischen dem Landkreis Konstanz und Tuttlingen. Das Wichtigste daran ist aber, dass ich es von Bus bis Bahn überall in Deutschland verwenden kann – ob in Berlin oder im Kreis Konstanz. Aber das eine ist das Ticket, das andere das Angebot. Und beim Angebot haben wir definitiv Nachholbedarf.

Noch ein Problem verbunden mit Zügen: Die SBB soll Flüchtlinge aus der Schweiz „durchwinken“ und an die deutsche Grenze bringen. Was können Sie unternehmen? Welchen Stellenwert hat das Thema in Berlin?

Jurisch: Das ist tatsächlich ein Thema, wir haben das im Innenausschuss besprochen. Die Staatssekretärin hat deutlich gemacht, dass ein enger Austausch mit der Schweiz besteht. Die Schweiz kann die Leute nicht einfach durchwinken. Faktisch besteht das Problem, dass zwischen der Schweiz und Österreich kein Rücknahmeabkommen besteht. Deshalb kann die Schweiz dorthin niemanden zurückschicken. Doch nach meinem Verständnis müsste die Schweiz illegal eingereiste Menschen trotzdem erfassen und sich um Rückführung kümmern. Das macht sie eben nicht. Innerhalb des Schengenraums muss sich die Schweiz bemühen, das Mögliche zu machen. Außerdem wurden auf deutscher Seite die polizeilichen Maßnahmen verstärkt, es wird mehr Schleierfahndung gemacht.

Was hört man aus der Schweiz zu dem Vorwurf?

Jurisch: Das übergeordnete Problem ist, dass die europäische Migrations- und Asylpolitik in vielen wichtigen Teilen ungeklärt ist. Deshalb haben wir Probleme. Wir können Ankunftsländer wie Italien und Griechenland nicht entlasten, indem wirksam innerhalb Europas umverteilt wird, weil sich Länder wie Ungarn und Polen bislang geweigert haben. Das ist die große Baustelle in Europa. Und sie bekommen wir hier in der Region auf diese Art und Weise zu spüren. Es liegt also nicht nur an der Schweiz, sondern ist eigentlich ein Symptom des Nichtfunktionierens der europäischen Asylpolitik.

Seitzl: Und die Bundesregierung führt natürlich Gespräche darüber mit der Schweiz.

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Nochmal zu Flüchtlingen: Jede Woche kommen 20 bis 70 Ukrainer, zusätzlich etwa 100 Asylbewerber pro Monat. Gemeinden und der Kreis stehen unter hohem Druck. Muss der Bund nicht mehr helfen?

Jurisch: Es gibt auf europäischer Ebene eine freiwillige Solidaritätserklärung von vielen Ländern, zu denen auch Frankreich gehört, dass man die ukrainischen Flüchtlinge besser verteilt. Wir sind in Baden-Baden-Württemberg an der Grenze zu Frankreich. Ich habe bereits mehrfach gefordert, dass französische Kommunen uns entlasten, weil Frankreich bisher deutlich weniger Flüchtlinge aufgenommen hat. Frankreich hat bisher 100.000, wir hatten jetzt eine Million. Da ist also noch Luft. Außerdem hat der Bund angeboten, Bundesimmobilien im großen Stil zur Verfügung zu stellen. Viele davon sind noch nicht genutzt.

Seitzl: Die ukrainischen Geflüchteten sind ja anderen nicht gleichgestellt, sondern erhalten im Rahmen der Massenzustrom-Richtlinie direkten Zugang zum Arbeitsmarkt und Leistungen des SGB II. Das war übrigens der Wunsch vieler. Es bedeutet nämlich, dass der Bund einen großen Anteil der Kosten der Unterkunft trägt. Das ist eine Entlastung. Ich sehe das Land in der Pflicht, die Kommunen zu unterstützen beim Integrationsmanagement. Bund und Länder haben gemeinsam entschieden, dass man den Rechtskreiswechsel macht – das Land muss seinen Anteil also auch finanzieren.

War es klug, den Ukrainern den Hartz-IV-Satz als Grundabsicherung zu gewähren statt sie den Asylbewerbern gleichzustellen?

Seitzl: Ich erinnere daran, dass es großer Konsens war von kommunaler, Bundes- und von Landesseite. Ich halte es weiter für richtig, insbesondere im Hinblick auf die Integration in den Arbeitsmarkt, die so viel einfacher zu stemmen ist. Und, das sage ich als Kreistagsmitglied, auch in Hinblick auf die Kosten der Unterkunft. Aber es ist unweigerlich so, dass es eine Ungleichbehandlung gibt gegenüber anderen Menschen, die hier Asyl beantragen. Das ist zu bedauern.

Jurisch: Als Europapolitikerin nehme ich es so wahr, dass das deutsche Angebot an die ukrainischen Geflüchteten umfassender ist als in vielen anderen europäischen Ländern. Aber natürlich kommen viele zu uns in die Region, weil bereits Familie da ist.

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Noch ein Sorgenkind: der Klinikverbund. Seine Zukunft ist völlig offen. Seit Langem macht die Fallpauschale den Kliniken Probleme. Nun soll es Änderungen geben – ist das rechtzeitig für den Verbund? Was kann die Bundespolitik noch tun für die Gesundheitsversorgung?

Seitzl: Die Probleme im Gesundheitsverbund sind zum Teil Ergebnis der landes- und bundespolitischen Gesundheitspolitik. Aber an vielen Stellen auch das Ergebnis fehlender struktureller Reformen. Wir haben genügend Kliniken in Deutschland, die wirtschaftlich arbeiten und diese Probleme nicht haben. Das zeigt, dass man in der Vergangenheit am GLKN wichtige strukturelle Entscheidungen nicht getroffen hat. Das Gutachten hat einen Vorschlag gemacht, der aus meiner Sicht schlüssig ist, weil es nicht nur wirtschaftlich, sondern auch medizinisch argumentiert. Wir wollen eine gute medizinische Versorgung im Landkreis. Unser Ziel ist es, dass diese in kommunaler Hand bleibt. Wir fordern als Kreis-SPD aber auch, dass man, bevor man an einen Neubau herangeht, die Option der Sanierung prüft. Auch hier muss wieder das Land in die Pflicht genommen werden. Es trägt zumindest teilweise die Kosten für den Bau. Bundespolitisch ist zentral, dass wir als ersten Schritt die Kinderkliniken aus dem DRG-System herausnehmen. Dieses System hat dazu geführt, dass Betten in den Kinderkliniken massiv abgebaut werden. Die tatsächlichen Kosten werden nicht abgebildet durch die jetzige Finanzierung. Das Gleiche gilt für die Notaufnahmen.

Jurisch: Die Schieflage im Gesundheitssystem ist vergleichbar mit jener im Verkehr: Wir haben viele ungelöste Probleme übernommen und werden jetzt weiter voranmachen, auch in der Krise.