Frau Diehl, steckt in uns allen ein kleiner Rassist?
Nein, zum Glück nicht. Die Menschen sind erst mal nicht rassistisch. Das sieht man, wenn man sich anschaut, wie Kinder agieren. Sie machen keine Unterschiede, wenn ein schwarzer Junge oder ein Mädchen mit Kopftuch in der Kita ist. Da können wir Erwachsene uns ein Vorbild nehmen. Aber es ist durchaus menschlich, Menschen in Kategorien aufzuteilen. Dieses Schubladendenken wird problematisch, wenn diese mit Wertigkeiten besetzt werden. Dazu trägt bei, dass die Kategorien Hautfarbe und Geschlecht zwar zunächst neutral sind, in der Realität aber systematisch mit ungleichheitsrevelanten Merkmalen verbunden werden, zum Beispiel mit Bildung und Einkommen.
Diese Vorurteile wieder aus unseren Köpfen zu verbannen, ist sehr schwer. Warum können wir das nicht so einfach?
Wenn wir Vorurteile gegen eine bestimmte Gruppe haben, dann nehmen wir sehr selektiv die Dinge wahr, welche zu dem Vorurteil passen. Wir blenden andere Beobachtungen aus. Wir können uns auch an Dinge besser erinnern, die zu dem Vorurteil passen. Und das ist das Tückische. Dadurch stabilisieren sich die Vorurteile und kommen uns normal und korrekt vor.

Haben Sie ein Beispiel für mich, wann ich meinen Vorurteilen im Alltag erliege?
Wenn wir im Krankenhaus eine Frau mit Kopftuch an einem Waschbecken hantieren sehen, gehen wir oft davon aus, dass es sich um eine türkische Putzfrau handelt. Dass es vielleicht auch die Oberärztin ist, kommt uns zunächst nicht in den Sinn. Oder wenn wir unterwegs nach dem Weg fragen wollen, fragen wir nicht den Schwarzen, weil wir davon ausgehen, dass er sich hier nicht auskennt. Um diese Vorurteile bekämpfen zu können, ist es wichtig, dass wir uns damit auseinandersetzen und Debatten darüber führen.
Nach dem Tod des US-Afroamerikaners George Floyd durch einen Polizisten führen wir in Deutschland die Debatte.
Das ist auch gut so. Wenn man wirklich in sich geht, dann merkt man, dass wir alle Vorurteile haben. Man sollte nicht denken: Rassismus gibt es vor allem gegen die Schwarzen in den USA. Auch wir in Deutschland haben ein Problem.
Sie denken wahrscheinlich an die Anschläge in Hanau, den Angriff auf die Synagoge in Halle und an die NSU-Morde?
Ein Unterschied zu den USA ist, dass bei uns andere Gruppen im Vordergrund stehen. Bei uns geht es vor allem um Diskriminierung von Muslimen. Die NSU-Morde zeigen zum Beispiel deutlich, dass nicht nur die Morde des Trios rassistischer Natur waren. Auch die Aufklärung der Morde hat so lange gedauert, weil die Beteiligten stark vorurteilsbelastet waren. In dem Moment, wo sie gehört haben, bei dem ersten Opfer, Enver Simsek, handelt es sich um einen türkischen Blumenhändler, haben sie gedacht: Türke, Blumenhändler, Niederlande, Drogen. Das zeigt, dass jeder mit Vorurteilen zu kämpfen hat und sich selbst immer hinterfragen sollte: Warum denke ich das jetzt?
Am Anfang hat man die Mordserie die „Dönermorde“ genannt. Das ist auch eine ziemlich abwertende Bezeichnung.
Natürlich! Daran kann man sehen, wie „harmlose“ Vorurteile in unserer Gesellschaft funktionieren. Viele mögen vielleicht sagen: Naja, wenn wir Türken sehen, dann denken wir an Döner. Das sei ja noch kein Rassismus. Richtig ist: Ja, es gibt auch viele türkische Dönerläden. Das Entscheidende ist aber, wenn es um sowas wie eine Mordserie geht, kann so ein vorurteilsbelastendes Denken die Aufklärung sehr stark verzögern oder sogar verhindern. So ist es ja auch passiert.

Unsere Sprache ist rassistisch geprägt?
Ja, auf jeden Fall.
Wenn ich an Ausdrücke wie Mohrenkopf oder Rothaut denke: Diese Begriffe sind nicht mehr zeitgemäß – je nachdem welche Generation man fragt.
Zu meiner Zeit, als ich in die Grundschule ging, gab es ein dunkelhäutiges Mädchen im meiner Gruppe. Sie wurde von Erwachsenen als Mischlingskind bezeichnet. Heute geht das natürlich nicht mehr. Manche Begrifflichkeiten sind auch ein Stück weit Syndrom einer Generation. Die Gesellschaft ist sensibler geworden, wenn es um Ausdrücke geht, die bestimmte Randgruppen diskriminiert.

Was ist, wenn ich bei einem dunkelhäutigen Mann annehme, dass er kein Deutscher ist?
Für manche Menschen, zum Beispiel ältere Menschen, die auf dem Dorf wohnen und Deutschland noch nie verlassen haben, kann es ein fremder Gedanke sein, dass man sowohl schwarz als auch deutsch sein kann. Da liegt die Frage nahe: Wo kommen Sie her? Oder das vermeintliche Kompliment: Sie sprechen aber gut deutsch! Das ist problematisch, weil es den Betroffenen natürlich suggeriert, dass sie nicht dazugehören. Gleichzeitig müssen wir verstehen, dass nicht jeder so ausführlich über diese Dinge reflektiert. Es ist in meinen Augen elitär, solche Bemerkungen grundsätzlich unter Rassismusverdacht zu stellen. Ich glaube, da müssen alle Beteiligten verständnisvoll sein. Aber ich denke, es ist alles auf einem guten Weg.
Und was ist mit den Lästereien über die Schweizer in Konstanz?
Das sind Animositäten auf Augenhöhe, die es ja auch in die andere Richtung gibt und ist daher etwas anderes.