Wenn es um einen konservativen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen geht, blicken Deutsche häufig auf andere: In Polen ist eine Abtreibung seit einigen Monaten komplett verboten und in den USA ist es ein schwieriges, umstrittenes Thema. Doch auch in Deutschland ist die Situation nicht optimal an moderne Lebensformen angepasst, kritisieren Verantwortliche von Pro Familia im Landkreis Konstanz anlässlich eines erstaunlichen Jubiläums: Den Abtreibungsparagraf 218 gibt es bereits seit 150 Jahren. Einige Versuche gab es bereits, offener mit dem Tabu-Thema umzugehen und die Regelungen zu lockern. Doch die Experten wünschen sich weitere Schritte für eine freie Entscheidung und gute Versorgung.

Wenn eine Frau sich gegen ein Kind entscheidet, macht sie es sich nicht leicht. Das beobachten Doris Wilke und Leo Lensing von Pro Familia Konstanz sowie Maleen Mack und Mathias Graf von der Pro Familia Singen immer wieder. Jede Woche beraten sie Frauen – ergebnisoffen und neutral, wie sie betonen. Bei ihnen müsse sich niemand rechtfertigen. Und es gehe in den Gesprächen nicht nur um einen Schwangerschaftsabbruch, sondern auch um weitere Themen wie Leben mit Kind und Elterngeld. Rund 400 Beratungen gab es im Landkreis Konstanz im vergangenen Jahr. Wie viele Frauen dann tatsächlich einen Abbruch vornehmen lassen, wissen die Psychologen und Berater nicht.

Geregelter Ablauf für Abbrüche: Was sich in 150 Jahren getan hat

„Ungewollte Kinder und Schwangerschaften gab es schon immer“, sagt Doris Wilke. Sie ist Geschäftsführerin des Konstanzer Standorts der Pro Familia Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung. Die Mittel waren früher abenteuerlich, die Gefahren groß. Dass manche Frauen bestimmte Tees tranken, war noch eine der harmloseren Methoden, um eine Schwangerschaft zu beenden. „Viele Frauen sind gestorben“, so Wilke. Kritisch werde es besonders dann, wenn Betroffene keine legalen Möglichkeiten haben. „Es gibt in anderen Ländern nicht weniger Abbrüche, aber viel schlimmere“, sagt Mathias Graf, Geschäftsführer des Singener Standorts.

Ärzte mussten seitenlange Gutachten schreiben

Auch in Deutschland gab es in den vergangenen Jahrzehnten hohe Hürden: Erst waren Abtreibungen nur aus medizinischen Gründen erlaubt, dann gab es intensive Debatten um eine Reform. Dabei ging es um die Frage, was überwiegt: Das Persönlichkeitsrecht der Mutter oder das uneingeschränkte Leben eines Embryos. Ab 1976 galt: „Die Entscheidung lag bei der Ärztin oder dem Arzt“, erklärt Leo Lensing und spricht von seitenlangen Gutachten, die damals nötig waren. Denn ein Abbruch war nur dann erlaubt, wenn eine von vier Indikationen vorlag. Mögliche Gründe waren beispielsweise medizinisch, wenn das Leben der Mutter gefährdet war, oder kriminologisch nach einer Vergewaltigung.

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Solche Gutachten braucht es heute nicht mehr. Seit den 90er-Jahren gilt: Wenn eine Frau ihre Schwangerschaft beenden möchte, muss sie innerhalb der ersten zwölf Wochen eine Beratung wahrnehmen – und dabei selbst herausfinden, was sie will.

Pro Familia will Wege aufzeigen, aber entscheiden muss die Frau selbst

Am schwierigsten sind solche Beratungen laut Leo Lensing, wenn Eltern die Diagnose bekommen, dass das Kind wegen einer Behinderung sein Leben lang eingeschränkt wäre. Eine „höchst anspruchsvolle Konfliktsituation“, in der Lensing Möglichkeiten aufzeigen kann. Aber entscheiden müssen andere, wie er betont. „Die Fälle sind sehr unterschiedlich“, sagt Mathias Graf. „Dass eine Frau kommt und nicht reden will, ist ganz selten. Die meisten sind dankbar. Denn die Frauen können oft mit niemandem darüber sprechen.“

Die Versorgung im Landkreis ist schwierig: Nur zwei Praxen und eine Klinik

Gute Informationen zu dem Thema seien schwer zu finden. Das liegt auch daran, dass Ärzte nicht für Abtreibungen werben dürfen. Und als Werbung gilt schon, eine Abtreibung zu erwähnen, wie der Fall der Gynäkologin Kristina Hänel aus Gießen zeigt: 2017 wurde sie erstmals verurteilt, weil sie auf ihrer Website darüber informierte, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbietet und welche Methoden es dafür gibt. Auch durch solche Einschränkungen sei die Versorgung inzwischen schwierig: Im Landkreis gebe es zwei Praxen und eine Klinik, die Schwangerschaften beenden. Welche das sind, verraten die Experten nur im persönlichen Gespräch – um die Mediziner vor Anfeindungen zu schützen.

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Mehr Freiheit = mehr Abbrüche?

Kritiker fürchten, dass mehr Schwangerschaften abgebrochen werden, wenn eine Abtreibung vereinfacht wird. Immer wieder würden sogenannte Lebensschützer mit Kampagnen die Arbeit von Beratungsstellen und Ärzten schlecht reden – und bedrohen. Manche dieser Kampagnen seien so beängstigend, dass Beratungsstellen die Polizei um Rat fragen mussten. Sie sei in Pforzheim beispielsweise Zeugin einer Aktion geworden, bei der Menschen mit Plakaten vor der Beratungsstelle standen, erzählt Doris Wilke mit einem Kopfschütteln. „Teilweise gehen die die Frauen an, die in die Beratung wollen.“ Dabei habe es früher sogar mehr Abbrüche gegeben.

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Abtreibung soll kein Tabu-Thema mehr sein

Nach hunderten Gesprächen sind sich die Experten sicher, dass Frauen nicht leichtfertig handeln. Es sei an der Zeit, Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr mit Schuld und Scham zu belegen, findet Maleen Mack: „Religion spielt da oft eine Rolle, aber nicht nur.“ Die Berater sprechen sich dafür aus, die Entscheidung gänzlich in die Hände der Betroffenen zu legen: „Schwangerschaftsabbruch kann nicht neben Mord und Totschlag stehen.“ Deshalb fordern sie eine Abschaffung des Abtreibungsparagrafen – auch wenn das bedeutet, dass eine Beratung bei Pro Familia keine Pflicht mehr wäre. „Uns geht es um die Frauen und dass Abtreibung kein Tabu mehr ist“, sagt Maleen Mack und nennt das Stichwort Selbstbestimmung. „Aber es ist noch viel zu tun.“

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