„Die Erinnerung ist ein Schnellboot, die Erinnerungsarbeit ist ein Tanker“, zu diesem Fazit kommt der Basler Geschichtsprofessor Erik Petry am Ende seines Vortrages im Wolkensteinsaals des Kulturzentrums. In seinem Vortrag für die Volkshochschule Landkreis Konstanz hat er klar formuliert: Es mangele in der Schweiz seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an Mahnmalen, Organisationen, Netzwerken und anderen Formen von Gedenken an die jüdischen Flüchtlinge und Opfer des Holocausts vor und während des Zweiten Weltkriegs.

Zum Beispiel gebe es rund 50 Erinnerungsorte in der Schweiz, die jedoch nicht von Gemeinde oder Regierung initiiert, sondern von jüdischen Stiftungen und Gemeinden finanziert und errichtet wurden. Aus einer öffentlichen Debatte, aus der Gesellschaft heraus wären solche Gedenkorte nicht entstanden, denn dieses Bewusstsein sei in der Schweiz eher wenig ausgebreitet, es herrsche die Meinung hervor, dass Juden nicht zur Schweiz gehörten.
Schweiz verweigerte geflüchteten Juden das Bleiberecht
Inwiefern soll denn die Schweiz überhaupt an Juden erinnern, das Land war doch neutral während des Krieges und nicht in Kampfhandlungen verwickelt? So dächten unter den Eigenossen viele, erklärt Petry. Andererseits aber habe die Schweiz viele Vorteile aus Bank- und Waffengeschäften mit den Nazis gezogen. Die USA hätten beispielsweise behauptet, die Schweiz sei auch schuldig, da sie mit ihrem Waffenexport an die Nationalsozialisten den Krieg verlängert habe.
Petry legt einige Fakten zum Verhalten der Schweiz gegenüber den Juden, nachdem ihnen die Flucht in die Schweiz gelungen war, auf den Tisch. Vielen geflüchteten Juden wurde das Bleiberecht verweigert, weil damals die Zugehörigkeit zum Judentum nicht als Asylgrund anerkannt wurde. Auch bei Flüchtlingen, die nur einen Monat bleiben wollten, um dann weiterzureisen, lautete der Abschiebegrund häufig „Überfremdung“, ein Begriff, der damals im politischen Diskurs entstanden war: Es gebe zu viele Ausländer in der Schweiz, das Land sei dafür zu klein, „das Boot ist voll“.
Etwa 988 Juden, die in der Schweiz gelebt haben oder sonstwie Kontakt zur Schweiz hatten, wurden in Konzentrationslagern umgebracht – Menschen, „an die heute niemand denkt“, so Petry. Als Hinterbliebene Zugang zum Vermögen ihrer Familie auf Schweizer Bankkonten forderten, sei von den Banken ein Beweis der Verwandtschaft durch einen Totenschein gefordert worden – bekannterweise wurden in den Konzentrationslager aber keine Totenscheine erstellt.
Viele in der Schweiz lebenden Juden hätten aus Angst vor Antisemitismus und davor, dass ihnen ihre Rechte wieder genommen werden, nicht protestiert oder in den jüdischen Gemeinden einen diplomatischen Umgang mit den Behörden gefordert. Sogar die Flüchtlingslager für die Juden sollen von jüdischen Instanzen finanziert worden sein, etwa von jüdischen Gemeinden oder Stiftungen.
Die Erinnerungsarbeit muss stärker forciert werden
Erst nach einigen Veröffentlichungen entstand ein öffentlicher Diskurs zum Thema Überlebende des Holocausts. Petry führt anhand einiger Beispiele auf, wie wenig auf Bundesebene für jüdische Interessen getan worden sei: Ganz wenige Organisationen hätten sich um die Erinnerungsarbeit und die Opfer gekümmert.
2011 sei eine dieser wenigen Organisationen, die Kontaktstelle der Holocaust-Überlebenden, aufgelöst worden, weil die Mitglieder es altersbedingt nicht mehr betreiben konnten. Im Bundeshaus wurde dann – also erst, als die Nachricht über das Ende dieser Organisation bekannt wurde – eine Feier veranstaltet und den Mitgliedern wurden Abzeichen verliehen.
Die Erinnerungsarbeit sei, so Historiker Petry, seit eh und je von den jüdischen Gemeinden selbst getragen, nie vom Schweizer Bund finanziert worden. Auch das Zentrum für jüdische Studien der Universität Basel selbst, das Erik Petry mit leitet, konnte sich vorerst nur aus jüdischen Stiftungen finanzieren. „Der Knoten hat sich gelöst“, so Petry, inzwischen übernehmen Bund und Gemeinde die Kosten für die Erinnerungsarbeit und es werde auf Bundesebene an einem Projekt gearbeitet, das der Opfer gedenkt.
Das genügt Petry jedoch nicht, er fordert, dass die Schulklassen aus der Schweiz nach Auschwitz fahren und sich die Gedenkstätte anschauen, denn viele Schweizer hätten einfach keine Ahnung, wenn es zum Thema Juden und Krieg komme. Er fordert auch eine Datenbank, um Vernetzungsarbeit zu ermöglichen. Erarbeitet wurde hierfür ein zehnseitiges Konzept, das dem Bundesrat überreicht wurde und als Motion durch den Ständerat und Nationalrat musste und letztendlich angenommen wurde.
Junge Schweizer engagieren sich für die Aufarbeitung
Den öffentlichen Diskurs besonders angekurbelt habe die Fernsehserie „Frieden“, die aus der Erinnerung an Charlotte Weber entstand, ein jüdisches Mädchen, das aus dem Konzentrationslager Buchenwald kam und in der Schweiz aufgenommen wurde. Die Serie, lobte Petry, zeige, wie sich Judenhass durch alle Gesellschaftsschichten ziehe.
Den Professor stimmt es optimistisch, dass an der Universität in Basel das Interesse der Studenten groß sei; sie würden die Geschichte anders wahrnehmen und hoffentlich neue Formen der Erinnerungsarbeit entwerfen. In vielen neuen Dissertationen ist die Geschichte der jüdischen Flüchtlingslager ein Thema. Er hofft, dass die neue Generation dafür sorgt, dass das Thema Schweizer Flüchtlingspolitik in die Geschichtsbücher der Schule Eingang findet.