Am Anfang war der Obstkorb. Es ist noch nicht allzu lange her, da galten die gratis im Betrieb angebotenen Vitamine als Ausweis einer neuen Unternehmenskultur, in der mittels besonderer Wertschätzung die Motivation von Mitarbeitern gefördert werden sollte.
Die Idee trug schnell Früchte, es folgten der Pezziball, das Tischfußball, die Yoga-Gruppe. Und wie das bei jedem neuen Selbstverständnis so ist, suchte es sich seine eigene Sprache. Das gemeinsame Bier nach der Maloche in der Eckkneipe wurde neudeutsch durch die After-Work-Party ersetzt.
Fehltage nehmen um 41 Prozent zu
Was als spleenige Attitüde insbesondere einer einst als selbstvergessen geltenden Software-Branche begann, ist inzwischen von existenzieller Bedeutung für die gesamte Wirtschaft geworden. Die Vorbeugung zum Erhalt der psychischen Gesundheit ist seit 2014 sogar in Paragraf 5 des Arbeitsschutzgesetzes festgeschrieben.
Der Arbeitgeber hat demnach für Arbeitsbedingungen Sorge zu tragen, die die psychische Gesundheit nicht gefährden. Für das Unternehmen Dear Employee in Konstanz bildet just dieses Gesetz den Rahmen seines Geschäftsmodells.
Beim Start-up-Quartett im Stromeyersdorf wirkt allein die Aussicht auf den Seerhein wohltuend aufs Gemüt. Am Tisch des Konferenzraumes allerdings präsentiert Geschäftsführer Daniel Fodor Zahlen und Fakten über eine Wirtschaft, in der sich ein wachsender Anteil von Mitarbeitern im seelischen Notstand befindet.
Laut DAK nahm beispielsweise zwischen 2011 und 2021 die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 41 Prozent zu. Und aufgrund eigener Recherchen geht Dear Employee bei 14 Prozent der Beschäftigten von der Gefahr eines Burnouts aus.
Was das für die Abläufe in den Unternehmen bedeutet, ergibt sich aus dem Blick auf den Arbeitsmarkt. 70 Prozent der kleinen und mittelgroßen Unternehmen fällt es nach Angaben des Unternehmens in der Bleichestraße schwer oder sogar sehr schwer, neue und ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Gleichzeitig sei bei der derzeitigen Situation davon auszugehen, dass jeder fünfte Beschäftigte innerhalb eines Jahres den Arbeitgeber wechselt.
Obst und Pezziball reichen nicht mehr
Der Obstkorb und seine Geschwister mögen dabei für Gesundheit und Haltemarketing noch immer ihre Berechtigung haben, aber sie sind laut Daniel Fodor nicht sonderlich zielorientiert. Er und seine Kollegen verfügen auf der Basis seiner früheren Forschungstätigkeit an der Berliner Charité über einen Werkzeugkasten zur Analyse von Faktoren, die maßgeblich zu seelischen Belastungen durch die Arbeitsbedingungen beitragen, samt eines Katalogs von konkreten Empfehlungen für Verbesserungen. Zum Coaching gehört die Überprüfung der Effekte nach einem Jahr.
In der schematischen und datenbasierten Analyse nimmt Dear Employee insgesamt 46 Arbeitsbedingungen unter die Lupe. Dazu zählen zum Beispiel der Blick auf die Arbeitsintensität samt die Auswirkungen unterbrochener Arbeitsprozesse auf die Zufriedenheit der Beschäftigten, die Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung der Mitarbeiter oder deren Einbeziehung in die strategischen Unternehmensziele. Dabei lassen sich branchenspezifische Trends ausmachen, was laut Daniel Fodor allerdings nichts am Bedarf einer individuellen Herangehensweise bei der Überprüfung der Arbeitsbedingungen ändere.
Das Team versteht sich dabei nicht als Seelenklempner für Unternehmen, deren Mitarbeiter sich bereits irgendwo zwischen innerer Kündigung und Burnout bewegen. Das Geschäftsmodell von Dear Employee sieht sich eher als Begleiter eines für notwendig erachtenden Umbaus der Wirtschaft. „Wir sind in der Prävention tätig“, sagt Benedikt Martinez Rodriguez, der im Team für die technische Aufarbeitung der Daten zuständig ist.
Wie hoch der Druck in der Wirtschaft insbesondere wegen des Personalbedarfs ist, verdeutlicht die Nachfrage. Mehr als 300 Unternehmen – teils in Konzerngröße – finden sich in der Kundendatei von Dear Employee. Die Zahl kann als Indiz genommen werden, dass das um die Berücksichtigung der psychisch wirksamen Arbeitsbedingungen erweiterte Arbeitsschutzgesetz in vielen Unternehmen weniger als neue Vorschrift ankommt, sondern eher einen Bedarf beim Wettbewerb um Mitarbeiter beschreibt.
Führungsstil? Lieber Klopp als Magath
Der Kulturwechsel in der Wirtschaft verläuft dabei nicht immer schmerzfrei. „Da werden oftmals bestimmte Dinge erst sichtbar gemacht“, sagt Daniel Fodor, „und das gleicht dann schon auch mal dem Öffnen der Büchse der Pandora.“ Nicht zwangsläufig habe die Analyse der Arbeitsbedingungen beispielsweise mit den Selbstverständnis von Führungskräften zu tun – aber oft ist es eben doch so.
„Mitarbeiter verlassen keine Unternehmen, sondern sie trennen sich von Führungskräften“, zitiert der Dear-Employee-Chef eine der Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Bindung von Mitarbeitern. Welchem Verhältnis Daniel Fodor und seine drei Mitarbeiter dabei den Vorzug geben, erschließt sich an seiner Antwort, was er zum Beispiel vom Führungsstil eines Fußballtrainers wie Felix Magath hält: „Dann doch lieber Jürgen Klopp.“