Montagabend, 16. März 2020. Bilder kursieren in den sozialen Medien. Fotos, die zeigen, wie zwischen Konstanz und Kreuzlingen Absperrungen errichtet werden und der Grenzzaun wieder aufgebaut wird. Die Situation hat etwas Surreales.


Sie war vorher ebenso unvorstellbar wie die gesamte Corona-Pandemie. Mit einem Schlag ist alles, was die Bewohner der Grenzregion für selbstverständlich erachteten, zunichtegemacht. Die offene Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland, für die sich Staats- und Stadtoberhäupter eingesetzt hatten, gehörte plötzlich wieder der Vergangenheit an.


Im Jahr 2006 hatten der seinerzeitige Kreuzlinger Stadtammann Josef Bieri und sein Konstanzer Amtskollege Oberbürgermeister Horst Frank zur Drahtschere gegriffen und den Grenzzaun auf Klein Venedig durchschnitten.


Beide sprachen damals von einem „historischen Ereignis“, denn es handelt sich nicht nur um eine Stadt- und Landes-, sondern zugleich um eine EU-Außengrenze. Der Grenzzaunabbau 2006 sorgte für ein großes Medienecho – der schlagartige Wiederaufbau 2020 nicht weniger.


Die Konstanzer Kleingärtner können nicht mehr in ihre Gärten im Tägermoos. Familien und Liebespaare werden auf nicht absehbare Zeit voneinander getrennt. Einwohner, welche den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, erinnern sich angesichts von Grenzpatrouillen, Schweizerischen Soldaten und der routinemäßigen Hubschrauberüberflüge an die Vergangenheit.


Doch dann wird Klein Venedig zum Anlaufpunkt der Auseinandergerissenen. Viele Menschen dies- und jenseits der Grenze treffen sich dort, um die Zusammengehörigkeit der beiden zusammengewachsenen Städte zu demonstrieren. Über den Grenzzaun hinweg wird Ball gespielt, Speisen und Getränke wandern von hüben nach drüben – ostentativ und zuweilen provokativ.


Erleichterung folgt am 15. Mai 2020, als die Grenzzäune wieder abgebaut werden. Ebenfalls ein staatstragendes Ereignis, welches einige Konstanzer und Kreuzlinger mit Rebensaft begießen. Ist das die Rückkehr zur Normalität? Nein, denn erst Mitte Juni werden die Grenzkontrollen eingestellt – und bis heute beherrschen die Unsicherheit aufgrund der Pandemie und der sich ständig ändernden Auflagen das Denken und Handeln der Menschen.


Die Grenzübertritte sind längst noch nicht so lebhaft wie vor Corona. Einigen ist es zu mühsam, herauszufinden, welche Regelungen gerade Gültigkeit haben. Andere bleiben wohlweislich lieber zu Hause, um das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten.


Trotzdem ist heute ein Grund zum Feiern, denn immerhin sind Schritte zurück zu einer Normalität sichtbar – wenn es auch manchmal Pandemie-bedingt wieder zwei Schritte zurück geht nach einem Schritt nach vorn. Gleichzeitig soll dieser Jahrestag daran erinnern, das scheinbar Selbstverständliche als kostbares Gut wertzuschätzen.