Der Junge auf seinem Rennrad erreicht die deutsch-österreichische Grenze, als es langsam Abend wird. Am Schlagbaum hält ein Zöllner den Zehnjährigen an, fragt nach dessen Kinderausweis und wohin es denn an diesem Abend noch gehen solle. Der Junge überlegt nicht lange: "Nach Südtirol, über den Arlbergpass." Den Abend wird er nicht wie geplant mit seinem Rennrad und dem Sternenhimmel, sondern in einer Zelle mit einer versifften Pritsche und abgegriffenen Pornoheften verbringen, wo er warten muss, bis seine Eltern ihn abholen. Der Junge mit dem Rennrad ist zehn Jahre alt und heißt Gerhard Mayr. Den meisten Konstanzern heute – 41 Jahre später – besser bekannt als Gerry. Gerry mit den Weltrekorden. Der Abenteurer und Querkopf. Aber auch Gerry, der sozial Engagierte, der sich seit Jahren für SOS-Kinderdörfer in der ganzen Welt einsetzt. Gerry, der bodenständige Unternehmer mit eigenem Motorradladen und Hostel.
Trifft man jenen Mann – 51 Jahre alt, ein Gesicht wie Filmstar Woody Harrelson, die Frisur von Bundestrainer Jogi Löw -, dann sieht man auch den kleinen Gerry vor sich. In seinen Augen funkelt immer noch das Kind, wenn Mayr an sein erstes großes Abenteuer zurückdenkt: "Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, mit meinem Rad schon mal in den Urlaub nach Südtirol vorauszufahren, und dann war der Punkt für mich, mir und allen anderen zu beweisen, dass ich das kann. Und ich glaube immer noch, dass ich es geschafft hätte, wäre ich nicht gestoppt worden. Mein Vater übrigens, der ja zwangsweise mit meiner Vita vertraut ist, glaubt es mittlerweile auch.
" Was würde man diesem Mann auch nicht zutrauen, der vier Einträge im Guinness-Buch der Rekorde verbucht und im November zum nächsten halsbrecherischen Abenteuer aufbricht. Dann will er mit einem selbst konstruierten und selbst zusammengebauten Paramotor-Propeller samt Motor als eine Art Rucksack plus Gleitschirm in Pakistan über 7800 Meter hoch fliegen. So hoch wie noch kein Mensch zuvor mit einem motorbewehrten Schirm.
Was Mayrs Eltern von so einer Aktion halten? "Die machen sich natürlich Sorgen und sagen mir, ich solle langsam mal aufhören." Aber ans Aufhören will Gerhard Mayr nicht denken. Natürlich gefalle es ihm nicht, wenn seine Eltern sich sorgten. Solange sich jedoch Leute für das interessierten, was er tue, solange er Sponsoren finde und Menschen – auch seine Eltern – einen seiner Vorträge im Anschluss an seine Unternehmungen besuchten, solange sei es etwas Gutes und solange werde er weitermachen. Und er macht so einiges.
Mit 21 Jahren, frisch aus der Gesellenprüfung zum Zweiradmechaniker, bricht Mayr nach Amerika auf. Alleine reist er zuerst mit Greyhoundbussen quer durchs Land, kauft sich dann in Sacramento einen Kombi und legt so insgesamt 18 000 Kilometer zurück. "Immer dieser Trieb: weiter, weiter. Dadurch hab' ich Adrenalin aufgebaut. Adrenalin, davon bin ich abhängig und es ist die einzige Droge, die ich akzeptiere und die mich immer weiterbringt. So kann ich auch tagelang ohne Schlaf, ohne Essen und trotz Schmerzen weitermachen.
" Und dieser Trieb, dieses Reisefieber – der Drang immer etwas Neues, noch Aufregenderes zu erleben, treibt Mayr bis heute von Reise zu Reise, von Abenteuer zu Abenteuer. Die Rallye Dakar ist er ebenso gefahren wie er die Strecke von Kanada bis nach Rio de Janeiro in 58 Tagen zurücklegte und auf einem Quad bis zum Nordkap vorstieß.
Diesem Leben als Getriebener der eigenen Abenteuerlust stellt Mayr die bodenständige Existenz als Unternehmer in seiner Heimat Konstanz entgegen. Ein Widerspruch, der nicht aufzugehen scheint. Dieser Mann, vollgepumpt mit Tatendrang bis zur Halskrause, für mehrere Stunden an einem Schreibtisch? Gerhard Mayr vereint diese Gegensätze. Seine Botschaft: Ein extremes Leben führen und trotzdem geerdet bleiben. Er sagt Sätze wie: "Lieber leben, als nur anwesend zu sein." Ein Mann wie ein D-Zug, ein rollender Stein, der kein Moos ansetzt. Ehefrau und Kind gibt es in Gerhard Mayrs Leben nicht. Dafür aber ein Haus, das er mit seinen eigenen Händen errichtet hat – seinen Motorradladen mit Werkstatt im Industriegebiet. Mayr sagt: "Frau kommt und geht, Haus steht."
Und was für ihn noch mehr Gewicht hat als ein Haus: die Erinnerungen seines Lebens. Unterhält man sich mit Mayr über diese, fragt man sich mitunter, was man selbst eigentlich mit den 24 Stunden eines Tages anfängt. Mayr scheint in sich zu ruhen, wenn er Sätze ausspricht, die klingen, als stammten sie direkt aus einem Motivationsratgeber. Und doch ist da dieser Drang nach Anerkennung, der seinem riesigen Selbstbewusstsein entgegensteht. Mayr scheint sich zugleich selbst genug und trotzdem von der Aufmerksamkeit und der Bewunderung anderer abhängig zu sein. Doch er sagt: "Ich habe kein Streben nach Anerkennung. Das habe ich eigentlich noch nie nötig gehabt. Ich muss niemandem etwas beweisen. Ich habe die Welt bereist, ein Haus gebaut und einen Baum gepflanzt", um dann etwas nachdenklicher hinzuzusetzen: "Vor meinem Flug über den Mount Cook habe ich in einem Interview gesagt: Wenn ich morgen bei der Aktion sterbe, hätte ich mir nichts vorzuwerfen. Wenn ich morgen die Erde verlasse, dann kann ich sagen, ich habe ein erfülltes Leben gehabt." Was den kleinen Gerry damals dazu antrieb, auf seinem Rennrad alleine loszufahren, das lässt ihm heute augenscheinlich noch immer keine Ruhe. Jede Faser seines Körpers giert nach Leben.
Doch auch Gerhard Mayr wird älter. Einen Schulterbruch spürt er immer noch. Mal zwickt es hier, mal zwickt es da. Doch für Mayr gibt es keine Altersbeschränkung auf Abenteuer. Er müsse seine Aktivitäten dann eben dem Alter anpassen. Aber ein Grund für Stillstand sei schwindende Fitness noch lange nicht. Wovor sich einer wie Mayr schon eher fürchtet, das ist das Vergessen. Würde sich sein Geist eintrüben und ihm die Eindrücke seines bewegten Lebens rauben: "Das würde mich traurig machen." Und dann doch wieder dieser Widerspruch. Der Mann, der nichts bereut und keine Anerkennung braucht, sagt: "An meiner Beerdigung wünsche ich mir einen Haufen Leute. Das ist eine schöne Vorstellung. Dann hast du etwas erreicht. Du bekommst es zwar nicht mehr mit, aber dann hast du etwas bewegt. Das Zwischendrin ist dann nicht mehr so wichtig, aber wenn dich alle vergessen und keiner steht an deinem Grab – das wäre schade."
Mayrs nächste Abenteuer
Noch im November reist Gerhard Mayr in den Norden Pakistans zum Himalaya-Gebirge. Dort will er mit seinem Paramotor aus rund 2000 Metern Höhe starten und auf über 7800 Meter fliegen. Gelingt ihm das, hat er seinen fünften Weltrekord aufgestellt. Für Februar 2017 plant Mayr mit einem Quad durch den Dschungel Südamerikas, von Venezuela bis nach Brasilien, zu fahren. Unterwegs will er Motor- und Gleitschirm fliegen, tauchen und surfen. Er plant aber nicht nur Abenteuer: Er will auch ein SOS-Kinderdorf besuchen.