Herr Stadtherr, was lockte Sie nach einigen Jahren im Schwäbischen an den Bodensee?
Während meines Studiums hatte ich schon Kontakt zu Konstanz, unter anderem durch Chorkonzerte und Orgelexkursionen. Der Bodenseeraum ist attraktiv. Als die Stelle des Konstanzer Bezirkskantors ausgeschrieben war, wusste ich deshalb, dass ich mich bewerbe. Mein Vorgänger Claus Gunter Biegert war 30 Jahre lang auf dieser Stelle. Solch eine Lebenschance bekommt man nur einmal. Schon nach gut zwei Monaten fühle ich mich hier sehr wohl, die Kirchenmusik hat in Konstanz einen hohen Stellenwert. Außerdem stehen große Aufgaben wie die Renovierung der Lutherkirche an.
Was ist eigentlich ein Bezirkskantor?
Mein Dienstauftrag ist zweigeteilt. Etwa die Hälfte meiner 100-Prozent-Stelle wende ich zeitlich für die Luthergemeinde auf, unter anderem für die Chorleitung, Konzerte und Organistendienste. Die andere Hälfte der Zeit stehe ich den restlichen 20 evangelischen Gemeinden im Kirchenbezirk Konstanz zur Verfügung. Dabei betreue ich nebenberufliche Musiker, bilde Chorleiter und Organisten aus und veranstalte Chortreffen. Da sich der Kirchenbezirk Konstanz bis nach Engen und die Exklave Büsingen erstreckt, bin ich viel unterwegs. Darüber hinaus habe ich von Herrn Biegert noch die Vorstandsstelle beim Konstanzer Chorfestival übernommen. Bezirkskantor zu sein, ist wahnsinnig vielfältig.
Warum haben Sie Schul- und Kirchenmusik studiert, was fasziniert Sie daran?
Ich verspürte früh eine kindliche Faszination für die Orgel. Schon als Grundschüler in unserem Dorf durfte ich den Kirchenschlüssel holen und auf der Orgel spielen. Von meiner frühen Jugend an habe ich dann Gottesdienste begleitet, doch nach dem Abi galt das Organistendasein als brotlose Kunst. Ich habe mich also zunächst dem Studium der Schulmusik zugewandt. Obwohl ich auch an Schulen Musik unterrichtet habe und mir das Spaß machte, habe ich mich doch für den Beruf des Kirchenmusikers entschieden und bereue es nicht!
Immer weniger Menschen, vor allem Jüngere, gehen in die Kirche. Was kann die Musik, was können Sie daran ändern?
Ob heute wirklich so viel weniger Leute in die Kirche gehen, weiß ich gar nicht. Aber klar müssen die Kirchen sich immer bemühen, jüngere Menschen auf unterschiedliche Art und Weise zu erreichen. Viele kommen nur dann, wenn es ihnen gerade schlecht geht. Meiner Erfahrung nach locken aber auch große Konzerte viele Besucher in die Kirchen. Deshalb führe ich auch die sehr etablierte Reihe "Das kleine Konzert" weiter. Seit 13 Jahren gibt es samstags um 17 Uhr (außer im Sommer) in der Lutherkirche ein Konzert ohne Eintritt.
Wollen Sie auch sonst vieles so machen wie Ihr Vorgänger oder bringen Sie frischen Wind in den Kirchenbezirk?
Ich habe schon mein eigenes Profil, aber es ist schwer, als Neuer alles umzukrempeln. Das ist auch gar nicht nötig. Es wäre unklug, die vielen etablierten Formate nicht weiterzuführen. Im Detail kann ich aber andere Schwerpunkte setzen. Ein Beispiel ist die Aufführung von Carl Heinrich Grauns Oratorium "Der Tod Jesu" am Karfreitag um 17 Uhr in der Lutherkirche. Dieses Passionsoratorium wurde in Konstanz noch nie aufgeführt, denn seit dem 19. Jahrhundert wurde das Andenken an Graun durch Johann Sebastian Bach verdrängt. Dabei war Graun zu Lebzeiten sehr bekannt!
Werden Sie öfter für uns unbekannte Komponisten aufführen?
Mein Credo ist: Bekanntes und Etabliertes wahren und pflegen, ohne den Blick für Neues zu verlieren. Es ist wichtig, dem Chor die Musik zu erklären, die wir singen, und gleichzeitig sein Publikum zu erziehen in dem Sinn, dass es auch Unbekanntes verträgt. Denn Qualität setzt sich durch, auch nach Jahrhunderten noch. Was heute auf den ersten Blick eingängig klingt, zum Beispiel die Lieder aus den Charts, ist morgen schon verpufft. Dagegen dauert es sehr lange, bis man ein Brahms-Requiem durchdrungen hat. Ich werde also qualitätvolle Musik aufführen – da kann durchaus mal ein unbekannter Komponist darunter sein.
Haben Sie ein Lieblingslied oder -stück?
Eindeutig die beiden Choräle des lutherischen Pfarrers Philipp Nicolai: "Wie schön leuchtet der Morgenstern" und "Wachet auf, ruft uns die Stimme". Als Kirchenmusiker kommt man aber auch an Johann Sebastian Bach nicht vorbei. Ansonsten liebe ich die große Vielfalt der Komponisten. In der Regel finde ich die Musik, mit der ich mich gerade beschäftige, die schönste.
Fragen: Kirsten Schlüter
Zur Person
Michael Stadtherr, 33 Jahre, wurde in Albstadt geboren und studierte Schul- und Kirchenmusik in Trossingen. Danach absolvierte er Aufbaustudiengänge in Dirigieren mit Schwerpunkt Chorleitung sowie Gesang und Gesangspädagogik bei Christine Müller in Rottenburg. Nach Stationen in Herrenberg und Böblingen war er Bezirkskantor in Esslingen. Diese Position hat er seit Januar 2018 in Konstanz inne. In seiner Freizeit besucht Stadtherr gern Konzerte und bereist die Welt. Der 33-Jährige ist verlobt. An Karfreitag, 30. März, um 17 Uhr, gibt er sein Antrittskonzert in der Konstanzer Lutherkirche. Aufgeführt wird unter seiner Leitung das Passionsoratorium "Der Tod Jesu" von Carl Heinrich Grauns (1704-1759). Ausführende sind: Cornelia Winter (Sopran), Iris-Anna Deckert (Sopran), Andreas Weller (Tenor), Timothy Sharp (Bass), der Bach-Chor Konstanz, Bach-Collegium Konstanz auf historischen Instrumenten, Michael Stadtherr, Leitung. Der Eintritt kostet 15 bis 30 Euro (nummerierte Plätze), zehn Euro (unnummerierte Plätze). Vorverkauf in SÜDKURIER-Geschäftsstellen, bei Buchkultur Opit (St. Stefansplatz 45) und in der Touristinformation am Bahnhofplatz.