Drei Jahre nach der oft zitierten Flüchtlingskrise: Wo steht Konstanz heute beim Thema Integration?
Osner: Sie sprechen die Flüchtlinge an. Ich habe die Gesprächsanfrage aber so verstanden, dass es um Integration gehen soll und nicht ausschließlich um Flüchtlinge. Deshalb möchte ich zunächst betonen, dass wir gerade – zwar mit Verspätung, aber dafür hoffentlich mit umso mehr Kraft – dabei sind, ein Integrationskonzept für die internationale Stadt Konstanz zu entwickeln.
Aber beim Thema Integration kann man nicht ignorieren, dass die Debatte zur Integration bestimmt wird von Diskussionen über die Integration oder eben Nicht-Integration von Geflüchteten oder Gastarbeiterkindern.
Osner: Aber allein der Exzellenzcluster wäre vollkommen unterbewertet, wenn man seine Themen Kultur und Integration alleine auf das Flüchtlingsthema herunterbrechen würde. Es gibt so viele Ansatzpunkte, wo wir von Verwaltungsseite mit den Wissenschaftlern kooperieren könnten. Aber ich glaube, dass sich viele nicht damit befassen, weil sie so sehr im Hamsterrad der täglichen Verwaltungsarbeit stecken.

Was verstehen Sie konkret unter Integration?
Osner: Ich will Integration nicht als passive Akzeptanz irgendeiner „Leitkultur“ – den Begriff lehne ich ab –, sondern als individuelle Teilhabe und einen wechselseitigen Prozess verstanden wissen. Das wird gerade durch die populistischen Auswüchse der Debatte vollkommen untergepflügt. Außerdem bedeutet Integration nicht zwingend Hilfestellung. Nein, wir sind eine internationale Stadt mit gut 15 Prozent Ausländeranteil (das bedeutet nach Faustregel 30 Prozent Migranten). Viele davon sind akademisch geprägt. Das sind zahlreiche hochgebildete Migranten, die unsere Gesellschaft sehr bereichern. Und diese Tatsache wird mir viel zu wenig gesehen. Der Fokus auf Flüchtlinge ist zu eng. Und wenn wir das ganze Spektrum des Themas Integration betrachten wollen, ist der Exzellenzcluster uns dabei eine große Hilfe. Punkt.
Herr Ezli, was sagen Sie zu dieser kleinen Brandrede von Herrn Osner?
Ezli: Ich stimme ihm auf jeden Fall zu, dass wir einen verkürzten Blick auf das Phänomen der Integration haben. In der Begriffsgeschichte von Migration und Integration war es so, dass immer, wenn ein Zustrom von Menschen kam, die Debatten um diese Themen aufgeflammt sind. Dann wurde aber nur kurzfristig reagiert. Es ist ein soziales Faktum, dass wir in Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft mit einer eigenen Einwanderungsgeschichte haben. Diese Geschichte ist jedoch unterreflektiert. Dabei zeigt sich unsere fehlende Souveränität bei den Begriffen Kultur und Integration. Wir sind unsicher in der Verwendung dieser Begriffe, und wir können sie nicht klar verorten. Das hat damit zu tun, dass es neben der Migration auch die Postmigration gibt.
Postmigration?
Ezli: Mit Postmigration sind alle langfristigen Folgen einer Einwanderungsgesellschaft gemeint. Beispielsweise die Fußballnationalmannschaft, die aufgrund ihrer vielen Spieler mit Migrationshintergrund gesellschaftliche Vielfalt widerspiegelt, oder dass mittlerweile viele Menschen in Deutschland sich explizit als deutsche Muslime begreifen. Das sind Phänomene von Postmigration. Bei Integration passt sich eine Gruppe nicht einer vorgefertigten Form von Kultur an, sondern es entsteht ein wechselseitiger Prozess, der sehr langfristig ist. Dennoch wollen wir Integration und Partizipation gleichzeitig und jetzt sofort erreichen. Zwar bedingen sich beide Begriffe und Konzepte, doch sie sind nicht identisch. Bei der Partizipation stehen die öffentliche und sichtbare Praxis im Fokus, die Integration benötigt aber zudem Zeit und Entwicklung. Das heißt, wir sind und werden unglaublich ungeduldig, was die Ergebnisse von Integration betrifft, wenn wir beide Begriffe und Konzepte identisch gebrauchen und als dasselbe verstehen.
Frau Mallmann-Biehler, wie sehen Sie das? Was tragen Einheimische und Migranten beidseitig zur Integration bei?
Mallmann-Biehler: Es kommen zwar monatlich nicht mehr so viele Flüchtlinge an wie noch vor drei Jahren. Aber diejenigen, die da sind, sind da. Zwei große Probleme sind die Wohnraum- und Arbeitsfindung. Mittlerweile hat etwa die Hälfte der Flüchtlinge in Konstanz einen an- oder aberkannten Asylstatus. Die andere Hälfte steckt noch in ihrem Asylprozess. Die meisten Flüchtlinge leben in einer Unterkunft. Viele lernen Deutsch, manche aber auch gar nicht. Ein Erfolg ist, dass viele eine Ausbildung in einem Handwerksberuf absolvieren oder absolviert haben. Vom derzeitigen Asylrecht profitiert das Handwerk, weil für Flüchtlinge eine Ausbildung im Handwerk eher möglich ist als beispielsweise ein Studium und darüber hinaus die Bleibechancen erhöht.
Wie hat sich Konstanz in puncto Integration in den letzten drei Jahren verändert?
Osner: Ich habe das Gefühl, dass die Konstanzer etwas entspannter geworden sind. Denn die hitzigen Diskussionen rund um die Unterbringung von Flüchtlingen im Stadtgebiet und den Ortsteilen ist etwas abgeklungen. Gerade 2015 wurden bei Diskussionsveranstaltung teilweise heftige Vorwürfe erhoben. Flüchtlinge wurden von einigen Verirrten sinngemäß als „laufende Bomben“ bezeichnet. Heute gibt es ein stärkeres Zutrauen aus einem großen Teil der Bürgerschaft und auch im Gemeinderat.
Können Sie erklären, warum es überall dort, wo eine Flüchtlingsunterkunft geplant war, zu heftigen Diskussion und Konflikten kam?
Ezli: Ich kann das Beispiel Egg aufgreifen. Damals kam die Bürgergemeinschaft Egg auf mich zu und bat um einen wissenschaftlichen Input zu Fragen von Integration und Migration. Vortrag und Austausch mit den Egger Bürgern haben dazu geführt, dass ich erstens ein besseres Bild von Motivation und Sorgen vor Ort bekommen habe, und zweitens haben meine Ausführungen den Eggern geholfen, so war zumindest mein Eindruck, das Thema besser zu greifen und entdramatisiert mit diesem umzugehen. Aber natürlich gibt es immer noch überall Menschen, die diese Mühen nicht aufbringen und auch nicht aufbringen wollen, die große Integrationsskeptiker sind und sich diesbezüglich den Positionen der AfD nahe fühlen.
Osner: Diesen Bodensatz gibt es überall und immer. Ich bekomme heute noch Mails, in denen mich Bürger fragen, ob ich für die Sicherheit ihrer Töchter oder die einwandfreien Absichten eines Flüchtlings, der in ihrer Nachbarschaft beobachtet wurde, garantieren könne. Sowas tut natürlich weh – aber wir beantworten jedes Anschreiben nach bestem Wissen und Gewissen.
Sie sprachen eben von „Bodensatz“, Herr Osner. Machen Sie sich Sorgen – angesichts der anstehenden Kommunalwahlen – dass dieser „Bodensatz“ politische Macht entwickelt und beispielsweise eine AfD-Liste aufgestellt wird und in den Gemeinderat einzieht?
Osner: Ja, ich mache mir schon Sorgen, dass vielleicht der ein oder andere Neurechte in den Gemeinderat einziehen könnte. Was dabei eine nicht unwichtige Rolle spielt, ist die Abwesenheit eines Einwanderungsgesetzes. Wir haben keine klaren Möglichkeiten möglicherweise gut qualifizierte Arbeitsmigranten legal zu integrieren. Hinzu kommen Verwaltungsdesaster wie im Fall des Berlinattentäters Anis Amri. Diese Fälle von Verwaltungsversagen sind katastrophal skandalös. Das sind Missstände, die kein normaler Mensch begreifen kann. Dazu kommt die Medialisierung mit Filterblasen in den sozialen Netzwerken. Diese Aspekte erschaffen dann populistische Stimmungen, selbst wenn die soziale Situation hier vor Ort eine ganz andere ist.
Und hat sich die Bereitschaft der Konstanzer zu Migrationsarbeit verändert?
Mallmann-Biehler: Am Höhepunkt im Herbst 2015 ist bei uns bei „Save me Konstanz“ wegen der vielen Registrierungen das Softwaresystem übergelaufen. Heute haben wir immer noch erstaunlich viel Bürgerbereitschaft. Wir haben in etwa 400 Helfende. Und sind damit bundesweit eine der großen Flüchtlingshilfsorganisationen – trotz der beinahe Kleinstadt Konstanz. Das ist wirklich erstaunlich.
Haben Sie in Konstanz also noch genug Helfer für alle anstehenden Aufgaben?
Mallmann-Biehler: Nein, natürlich nicht. Viele der Flüchtlinge sind jetzt schon ein paar Jahre da. Die konnten eine Ausbildung machen, weil sie – vor allem psychisch – in der Lage waren, überhaupt Deutsch zu lernen. Viele sind aber so traumatisiert, dass sie das einfach nicht packen. Und von daher sind die Anforderungen an die Flüchtlingshelfer so massiv, dass wir sagen, sinnvoll ist nur eine Face-to-Face-Betreuung. Mittlerweile hat „Save me“ nur noch wenige Studierende, die regelmäßig mithelfen. Eigentlich bräuchten wir aber gerade die jungen Leute für die jungen Flüchtlinge. Denn ungefähr zwei Drittel aller Flüchtlinge sind alleinstehende Männer, die mit „Oldies“ wie mir nicht ganz so glücklich sind. Das versteht sich ja auch. Und das prägt natürlich das Verhältnis.
In einem Gespräch im Jahr 2016 sagten Sie, es hänge sehr viel am Ehrenamt. Und, dass die Kommunikation von Stadt und Land nicht ideal war, was Ihnen die Arbeit zusätzlich erschwert habe. Wie sehen Sie das heute?
Mallmann-Biehler: Ich denke, die Stadt könnte insbesondere bei der Beschleunigung von Verfahren mehr tun. Die Flüchtlinge laufen zum Teil monatelang mit einem Stück Papier als Ausweis herum, weil die Stadt es – in Zusammenarbeit mit den Bundesinstitutionen –nicht auf die Reihe bekommt, schnell einen Ausweis zu beschaffen. Die größeren Probleme sehe ich allerdings beim Landratsamt. Das liegt daran, dass es für die meisten Dinge, wie Beschäftigungsverhältnisse von Flüchtlingen, zuständig ist. Landrat Frank Hämmerle ist beispielsweise von Anfang an ein absoluter Gegner der Merkelschen Flüchtlingspolitik. Diese Haltung prägt das gesamte Landratsamt. Der Amtsleiter für Migration und Integration, Ludwig Egenhofer, bemüht sich durchaus, aber ein Mitspracherecht der Helfergruppen an Aktivitäten lehnt er radikal ab.
Osner: Die ehrenamtlichen Organisationen sind für uns nicht irgendwelche Lückenbüßer oder Gehilfen der Stadt. Wir wären alle ziemlich dumm, wenn wir nicht sehen würden, dass diese ehrenamtlichen Organisationen die tragenden Akteure der Gesellschaft sind – um Flüchtlinge zu integrieren und um sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Wir als Stadt können helfen, indem wir beispielsweise „Save me“ finanziell unterstützen.
Mallmann-Biehler: …die Spenden aus der Bevölkerung werden auch weniger.
Und was sagt die wissenschaftliche Seite dazu?
Ezli: Probleme in der Kommunikation von Einheimischen und Migranten gab es auch schon in den 60ern. Dabei sind die ersten Kontakte wichtig. Integration ist auch oft ein Prozess des – so sagt es der amerikanische Integrationstheoretiker Milton Gordon – psychischen Wohlfühlaspekts. Dieser ist ein hochintegrativer Marker und entsteht nur dann, wenn man sich eingebunden fühlt, wenn Dialoge entstehen. Diese praktische Integration, sozusagen die Partizipation, ist sehr wichtig. Sie mitbestimmt die darauf folgende Geschichte der Integration.
Wie können Wissenschaft, ehrenamtliche Flüchtlingshilfe und Stadt Säulen besser zusammenwirken, um auch einem Integrationskonzept Leben einzuhauchen?
Osner: Sich jedes halbe Jahr zu treffen, reicht nicht aus. Außerdem wünsche ich mir aus der gesamten Verwaltung mehr Offenheit dafür. Denn die Offenheit bei Herrn Ezli und seinen Kollegen aus dem Cluster, aber auch vom Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft ist da. Ich glaube, dass wir viel mehr voneinander profitieren können. Und ich hoffe, dass wir mit dem Integrationskonzept, das wir alle gemeinsam erarbeiten werden, den Blickwinkel der Politik stärker öffnen.
Haben Sie schon genaue Daten, wann das Integrationskonzept fertiggestellt wird?
Osner: Ich schätze, dass wir Anfang 2019 erste Ergebnisse haben. Das ist dann eine Basis, mit der wir auch die Verwaltungsstrukturen überprüfen werden.
Mallmann-Biehler: Das Verhältnis zwischen Flüchtlingsorganisation und Stadt ist soweit ganz gut. Bezüglich der Uni möchte ich noch die „Refugee Law Clinic“ der Jura-Studierenden einbringen. Mittlerweile sind sehr viele Asylbewerber abgelehnt, und die ganzen Klagen dagegen kann „Save me“ von der Beratung her alleine nicht stemmen. Diese Initiative hilft uns als Flüchtlingsorganisation und vor allem den Flüchtlingen sehr. Die Zusammenarbeit ist sehr gut. Insgesamt mit der Uni könnte sie noch besser werden
Und Herr Ezli, was wünschen Sie sich?
Ezli: Wie heute auch, ein Zusammentreffen. Ich habe heute wieder viel erfahren und kann so Positionen besser einschätzen. Aber die Wissenschaft hat natürlich auch Grenzen. Es ist nicht einfach, immer wieder Ratschläge und Empfehlungen zu geben. Aber je konkreter die Fragestellungen sind, desto bestimmter können wir aus der Wissenschaft darauf reagieren.
Fragen: Marc-Julien Heinsch und Fabian Vugrin
Warum es zu dem Interview kam und wer die Gesprächspartner genau sind
- Hinter der Geschichte: Vor kurzem war die neue Integrationsbeauftragte des Bundes, Anette Widmann-Mauz, zu Besuch beim Exzellenzcluster der Universität „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Themenschwerpunkt der Veranstaltung war die Frage nach der Vereinbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse – vor allem aus dem Bereich der Integrationsforschung – mit politischer Praxis. Das Gespräch, an dem auch Bürgermeister Andreas Osner und Özkan Ezli teilnahmen, war für den SÜDKURIER Anlass, der Thematik auch auf regionaler Ebene nachzugehen. Konstanz ist mit seiner Universität eigentlich prädestiniert dazu, den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik herzustellen und zu fördern. Doch besteht dieser Austausch? Und wenn ja, können davon auch die direkten Betroffenen – beispielsweise Helfer von Flüchtlingsorganisationen – profitieren?
- Die Gesprächspartner: Marion Mallmann-Biehler ist seit der Vereinsgründung im Januar 2016 erste Vorsitzende der Flüchtlingshilfsorganisation „Save me Konstanz e.V.“. Sie studierte Germanistik und Politik in Marburg, Gießen und London. Ihre Doktorarbeit trug den Titel „Das Innere Reich: Analyse einer konservativen Kulturzeitschrift im Dritten Reich“. Vor ihrer Tätigkeit bei „Save me“ leitete Marion Mallmann-Biehler 26 Jahre lang das Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg mit Sitz in Konstanz.
Özkan Ezli ist Wissenschaftler am Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz. Ezli studierte Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Soziologie und Islamwissenschaft sowie Buch- und Medienpraxis. Er promovierte mit Auszeichnung zum Thema „Grenzen der Kultur. Autobiographien und Reisebeschreibungen zwischen Okzident und Orient“. Am Exzellenzcluster ist Ezli Koordinator des Forschungsschwerpunkts „Migration in der globalen Gegenwart“ und ein anerkannter Experte bei Fragen der Integration.
Andreas Osner ist Bürgermeister und OB-Stellvertreter und unter anderem zuständig für die Themen Integration, Flüchtlinge, Soziales und Bildung. Seit 1. Juli 2013 ist er Dezernent für Soziales, Bildung, Jugend, Kultur und Sport der Stadt Konstanz. Seine Amtszeit beträgt acht Jahre. Osner ist studierter Volkswirt und promovierte zum Thema „Kommunale Organisations-, Haushalts- und Politikreform. Ökonomische Effizienz und politische Steuerung“. - Zahlen: Derzeit leben 153 verschiedene Nationalitäten im Landkreis Konstanz. Der Ausländeranteil beträgt 13,2 Prozent. Es leben rund 4000 Flüchtlinge im Landkreis Konstanz. 54 Prozent der Ausländer kommen aus der Europäischen Union. In der STadt Konstanz beträgt der Ausländeranteil 15 Prozent (Stand: 2016). Die meisten der Ausländer kommen mit 13 Prozent aus Italien, mit acht Prozent aus der Türkei und mit sechs Prozent aus Kroatien. Zwischen 2012 und 2016 hat es im Landkreis Konstanz 2486 Einbürgerungen gegeben.