Frau Großkreutz, wie erklären Sie skeptischen Eltern die Gemeinschaftsschule?
Ich erkläre allen Eltern die Gemeinschaftsschule gleich. Nämlich als Schulform, in der die Kinder über einen längeren Zeitraum gemeinsam auf eine weiterführende Schule gehen. In der nach der Grundschule nicht aufgeteilt wird, ob das Kind einen Hauptschulabschluss anstrebt, auf die Realschule gehen oder Abitur machen soll. Bei manchen Kindern kann man das sehr wohl einschätzen. Bei anderen Kindern zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig. Eine Prognose zu einem bestimmten Zeitpunkt macht auf jeden Fall etwas mit den Kindern. Und zwar mehr, als wir uns das als Erwachsene vorstellen können. Im Extremfall fühlen sie sich überfordert. Viele haben auch das Gefühl: Da traut mir jemand etwas nicht zu. Die Gemeinschaftsschule lässt den Kindern da mehr Zeit.
Und das überzeugt die skeptischen Eltern?
Ich muss keine skeptischen Eltern überzeugen und bin nicht missionarisch. Ich kann das Konzept erklären und dann hat jeder das Recht, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Dieses Selbstbewusstsein haben wir. Aber wenn man unsere Anmeldezahlen anschaut, muss man sagen: Das Konzept überzeugt offensichtlich relativ viele Eltern.
Die freie Entscheidung haben Eltern vielleicht noch im städtischen Gebiet. Auf dem Land sieht das anders aus.
Auf dem Land ist es gegebenenfalls etwas anderes, ja. Aber auch dort gibt es in der Nähe ein Gymnasium oder eine Realschule. Die Kinder müssen dann eben einen Fahrtweg in Kauf nehmen.
Was läuft gut an der Gemeinschaftsschule oder vielleicht auch besser im Vergleich mit anderen Schulformen?
Auch da: Wir müssen uns mit niemandem vergleichen. Was ich sehr schätze: Die Kinder bewerten und beurteilen sich gegenseitig weniger, sind tolerant und gehen offen miteinander um. Das war eine meiner Hoffnungen in Bezug auf die Gemeinschaftsschule, und die sehe ich bestätigt. Wir arbeiten mit den Kindern daran, zu respektieren, dass Menschen verschieden sind. Menschen sind auch verschieden begabt. Das ist eine Tatsache. Das Entscheidende in der Gemeinschaftsschule ist: Wie gehen wir mit dem Thema Diversität um oder welche Haltung haben wir dazu? Und da unterscheiden wir uns einfach im Anspruch von den anderen Schulen.
Was ist noch verbesserungswürdig?
Jede Schule ist immer verbesserungswürdig. Lernen ist ein Prozess und Schulentwicklung auch. Es würde mir Angst machen, wenn jemand sagt: er ist am Ende damit. Und natürlich gibt es auch in der Gemeinschaftsschule Punkte, wo man an der einen oder anderen Stellschraube noch etwas verändern muss. Wir reflektieren und evaluieren: Haben wir die Inhalte richtig aufbereitet? Was fehlt, was haben wir zu wenig bedacht? Was hat sich bewährt? Wir laden auch immer wieder Experten zu uns ein. Das ist ein ständiger Optimierungsprozess und viel, viel Arbeit. Aber auch eine große Chance.
Ein konkretes Beispiel?
Alle unsere Materialien, die wir in Deutsch, Mathe oder Englisch benutzen, haben wir zweimal evaluiert und überarbeitet. Im dritten Jahrgang haben wir gesagt: Das lassen wir jetzt so. Es ist ja vielleicht auch mal an irgendeiner Stelle für einen bestimmten Zeitpunkt etwas gut. Rückmeldungen von Eltern – zum Beispiel zu den Formulierungen im Lerntagebuch – nehmen wir mit in eine Unterrichts- und eine Schulentwicklungsgruppe.
Vor kurzem veröffentlichte die Uni Konstanz eine Studie, die sagt: Viele Lehrer und Schulleitungen fühlen sich durch die dichten Reformen in kurzer Zeit überfordert. Wo ist der Fehler?
Die Gebhardschule hat schon vor der Reform mit Unterrichtsentwicklungsprozessen angefangen. Insofern waren wir besser darauf vorbereitet als andere. Aber die Zeitfenster, die wir und die Kollegen haben, um den Unterricht in Ruhe zu entwickeln, die sind definitiv zu klein. Es bräuchte zusätzliche Lehrerdeputatstunden, wo eine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern in einem Zeitfenster, wo sie sonst keine Verpflichtungen haben, Dinge reflektieren, bearbeiten, den anderen Kollegen vorlegen können. Und das kostet Geld. Aber alle Entwicklungen, die eine hohe Qualität haben, sind teuer.
Kritiker der Gemeinschaftsschule sagen, dass Sie mit Zeit und Geld ohnehin schon bevorzugt werden im Gegensatz zu den anderen Schulformen.
Die Gemeinschaftsschule hat mehr Stunden für Differenzierung. Aber ich meine, wenn ich allen Begabungen gerecht werden möchte… Der Umgang mit Heterogenität braucht zusätzliche Ressourcen, und zwar egal in welcher Schule.
Viele Eltern sagen: Mein Kind lernt eigentlich nur, wenn es unter Druck steht. Wenn es Leistung abliefern muss. Und diese Eltern haben dann Angst, dass das an der Gemeinschaftsschule einfach nicht der Fall ist. Was antworten Sie diesen Eltern?
Erstens müssen alle Schüler in der Gemeinschaftsschule auch Leistung erbringen. Sogar relativ viel. In unseren Köpfen ist es noch ganz arg drin, dass man denkt, der Druck müsse über die Noten kommen. Es gibt aber genügend Beispiele, die genau das Gegenteil belegen. Dass Kinder, wenn sie immer unter Notendruck stehen, ganz in die Verweigerung gehen. Wenn sie fünfmal eine schlechte Note haben, kommen sie selten zu der persönlichen Erkenntnis: Okay, jetzt arbeite ich richtig viel. Sondern sie sagen häufiger, der Lehrer ist blöd, das Fach ist sowieso so doof, das kann ich nicht. Ich höre aber diese Sorgen der Eltern tatsächlich oft. Eigentlich müsste ich antworten: Jedes Kind hat eine natürliche Neugierde, und wir versuchen einen Rahmen zu schaffen, der das Kind darin unterstützt. Wenn aber ein Kind bei Gott nichts arbeiten will, wird es immer ein Problem haben. Egal wo. Da ist die Gemeinschaftsschule kein Heilmittel.
Es gibt eine Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule im Kreis, die sagt: Es ist schwierig, vor allem beim gemeinsamen Input am Anfang der Stunde, die unterschiedlichen Niveaus zu bedienen. Die starken Schüler profitieren davon, die schwachen kommen nicht mehr mit.
Der Input stellt wahnsinnig hohe Ansprüche an die Lehrkräfte, das ist richtig. Junge Lehrkräfte brauchen Zeit, in diese anspruchsvolle Tätigkeit hineinzuwachsen, und sie brauchen darüber hinaus eine hohe fachliche Kompetenz. Es gibt Input-Themen, die sind für alle Kinder dieselben, weil sie Grundlagen sind. Es wird nicht immer gelingen, dass in einem gemeinsamen Input alle gleichermaßen profitieren. Auch wenn ich in einer sogenannten homogenen Gruppe einen klassischen Lehrervortrag mache, profitieren nicht alle Kinder gleichermaßen. Und ja, die größte Herausforderung sind in jedem System die schwächeren Kinder. Ich bin auch leidenschaftliche Hauptschul-Schulleiterin gewesen. Aber an der Hauptschule haben die Kinder, obwohl wir sie gut und mit vollen Engagement gefördert haben, oft das Gefühl gehabt – nicht durch uns, sondern durch die Gesellschaft – abgewertet zu werden.
Und das kann hier nicht passieren, wenn ein Schüler zum Beispiel „nur“ auf Ein-Stern-Niveau arbeitet? Das wissen die anderen Schüler ja auch.
Natürlich. Ich will nicht ausschließen, dass das auch passieren könnte im System Gemeinschaftsschule. Aber wir würden es thematisieren. Ein Schwerpunkt von uns ist die Arbeit an der Haltung, miteinander wertschätzend umzugehen und unterschiedliche Begabungen zu respektieren. Das Entscheidende ist, was sagen diese Kinder in einigen Jahren, wenn sie mal hier den Abschluss gemacht haben?
Was ist Ihre Hoffnung, was diese Schüler dann antworten?
Meine größte Hoffnung wäre schon, dass sie als junge Erwachsene, die dann ein Teil dieser Gesellschaft sind und diese auch mitgestalten, sagen können: Für uns ist Verschiedenheit von Menschen eine Selbstverständlichkeit.
Das steht ja so auch in den Broschüren: Vielfalt macht schlauer. Ist das so?
Der Spruch ist nicht von mir. Vielfalt macht hoffentlich toleranter. Das wäre eher meine Formulierung.