Reinhard Müller

Gleich zwei neue Aspekte brachte das Karfreitagskonzert in der Lutherkirche: Ein Großwerk, das in Konstanz wahrscheinlich noch nie aufgeführt wurde, obwohl es nicht weniger als 270 Jahre alt ist und zeitenweise Bachs Passionen aus Kirchen und Konzertsälen verdrängt hatte: Carl Heinrich Grauns "Der Tod Jesu". Noch gespannter als auf das Werk dürften die kirchenfüllenden Besucher auf den Kantor gewesen sein, der in diesem Konzert seine musikalische Visitenkarte abgab: Michael Stadtherr, Anfang 30, wechselte vom Bezirkskantorat Esslingen ins gleiche Amt in Konstanz, das Claus Gunter Biegert 30 Jahre lang versehen hatte.

Stadtherr hatte für das 25 Nummern große Oratorium das "Bach-Kollegium Konstanz" in Kammerbesetzung historischer Instrumente mit Streichern, Traversflöten, Barockfagotten und Continuo-Orgel engagiert: Ein Glücksgriff, der verhindete, dass die frühklassische "Empfindungsmusik" zu sehr in opernhafte Gefühlsdarstellung hinüberglitt, die Graun als Opernkomponist beherrscht hatte.

Der religöse Inhalt der Passionsbetrachtungen zwischen biblischer Geschichte und weit ausgreifender, schwärmerischer Dichtung war einem exquisiten, ganz hervorragenden Vokalsolistenquartett anvertraut, das jederzeit in den weitgespannten Acompagnato-Rezitativen und Arien die stimmliche Balance zwischen theatralischem Affekt und geistlicher Verkündigung hielt: Cornelia Winter und Iris-Anna Deckert waren Sopranistinnen je eigener, kantabler Klangprägung von dramatisch (Koloraturen!) bis lyrisch, wunderbar harmonierend im Duett "Feinde, die ihr mich betrübt"; Andreas Weller ein großartiger Tenor glasklarer Diktion als "Evangelist" wie als Belcanto-Gestalter; Timothy Sharp ein Bass von ergreifendem Wohllaut (Sterbeszene Jesu) und dunkler, händelscher Wucht ("So stehet ein Berg").

Der Bach-Chor gab sich der ungewohnten Stilistik des Werks und anderen Gestik des neuen Kantors aufgeschlossen und bruchlos hin: Die Choräle erhielten ausmusizierten Wortklang, die Fugen flossen in trainierter Stimmbalance (mit stärker zugelassenem Männerklang) und präzise ausgearbeiteter Feinheit: Großer, dankbarer Schlussapplaus in berechtigter Erwartung, dass der Chor seine spezielle Rolle in der Konstanzer Kirchenmusik fortsetzen wird.