Was sind das für seltsame Vögel, die vor wenigen Tagen am Binninger Segelflugplatz Station bezogen haben? Schwarz wie Kormorane, ausgewachsen etwa so groß wie Truthähne, ausgestattet mit einem überlangen, gebogenem Schnabel und bis auf ein paar Flaumfedern kahlköpfig. Bis vor 400 Jahren war der Waldrapp rund um den Bodensee, in der Schweiz, Österreich und in Italien noch heimisch.
Ein Zugvogel, der nördlich der Alpen von Frühjahr bis zum Herbst optimale Futter- und Aufzuchtbedingungen vorfindet und im Herbst mit seinem Nachwuchs gen Süden zum Überwintern zieht. Wie Störche, Wildgänse oder Kraniche können sie so Tausende Kilometer zurücklegen. Stoisch nehmen sie die Route zweimal im Jahr in Angriff.
Küken werden von menschlichen Zieh-Eltern aufgezogen
„Ein Vogel von herber Schönheit“, beschreibt Johannes Fritz diese Ibis-Art. Man kann ihn vielleicht als Konrad Lorenz der Waldrappen bezeichnen. Jedenfalls ist der Österreicher der Kopf des Projektes zur Wiederansiedlung dieser seltenen Tierart.
Seit 2001 kümmert er sich zusammen mit zahlreichen Ehrenamtlichen, mit Unterstützung von Sponsoren und europäischen Fördergeldern darum, dass die Vögel nach Europa zurückkehren. Doch das ist ein sehr mühevolles Unterfangen, denn es gibt ja keine erwachsenen Vorbilder unter den Vögeln, die ihren Jungen das Fliegen und Reisen beibringen könnten.
Offenbar waren Waldrappe seit dem Mittelalter beliebte Wildvögel für die Speisekarte. Jedenfalls ist ihr Verschwinden der Tatsache geschuldet, dass sie so lange bejagt wurden, bis sie im 17. Jahrhundert in unseren Breiten völlig ausgerottet waren. „In Marokko gibt es noch eine streng bewachte, wild lebende Kolonie“, erzählt Johannes Fritz. Seine Vögel, die er für die Wildnis trainiert, stammen aus international geschützten Gehegen wie zum Beispiel dem Tiergarten Schönbrunn.
Von dort werden frisch geschlüpfte Küken an andere Standorte verlegt und von menschlichen Ziehmüttern oder -vätern in wochenlanger Pflege aufgezogen. Am Ende des Sommers begleiten diese menschlichen Eltern die Jungvögel in Ultraleichtflugzeugen über die Alpen in ihre Winterquartiere.
Im Frühjahr wächst dann die Spannung, ob die Waldrappe den Weg zurück in den Norden finden. Auch wenn sie lange nicht gezogen sind, so haben sie doch ein entsprechendes Gen in sich. Alle Vögel sind beringt und können über GPS geortet werden. Der Jubel ist groß, wenn ein Tier im Frühjahr zurückkehrt.

In Überlingen ist das mittlerweile so gut gelungen, dass Johannes Fritz und sein Team nun beim Segelflugplatz in Binningen eine neue Kolonie gegründet hat. Von Überlingen aus fliegen die Waldrappe in die Toskana ins Winterquartier. Anne Gabriela Schmalstieg ist seit 2017 dabei. Sie erzählt von den Versuchen, Nester in der Hödinger Felswand zu platzieren. Doch die Vögel bevorzugen bisher ihre künstliche Brutwand, weil sie diese kennen. Doch bei einem Nest ist die Aufzucht im natürlichen Brutgebiet gelungen. Zwei Jungvögel wurden im Molasse-Felsen aufgezogen.
Flugplätze eignen sich besonders gut zum Auswildern der Vögel
Aber warum jetzt der Ortswechsel nach Binningen? – „Wir wollten schon 2020 kommen“, sagt Johannes Fritz. „Je mehr wilde Vögel in der Region sind, um so weiter müssen wir weg mit einer neuen Kolonie.“ Flugplätze eignen sich gut zum Auswildern der Vögel. Dass es drei Jahre gedauert hat, bis die Kolonie im Hegau gegründet werden konnte, lag vor allem an Corona.
Die Gemeinde mit Bürgermeister Holger Mayer ist begeistert von dieser besonderen Attraktion. Und auch Clemens Fleischmann von der Ottilienquelle hat sich gleich als Pate zur Verfügung gestellt und seine Unterstützung für das Artenschutzprojekt zugesagt. Johannes Fritz lobt die „fantastischen Rahmenbedingungen“ und Stefan Brütsch vom Segelfliegerverein freut sich über die Gesellschaft.
Die gefiederten Gäste stammen aus Österreich und wurden im Karlsruher Zoo in Containern aufgezogen. Bevor sie flügge wurden, kamen sie nach Binningen. Von hier aus sollen sie im Herbst zum Überwintern über die Schweiz und Frankreich nach Spanien begleitet werden.
In der Voliere kümmern sich die beiden Ziehmütter Helena Wehner und Barbara Steininger von morgens bis abends um die Jungvögel. Außer ihnen darf sich niemand den Waldrappen nähern. Beobachter müssen einen großen Abstand einhalten. „Es wirkt romantisch, wie die beiden jungen Frauen mit den Vögeln spielen“, sagte Johannes Fritz. „Es ist aber ein knochenharter Job.“

Man muss schon ein enormes Durchhaltevermögen an den Tag legen. Dazu gehört eine große Portion Leidenschaft für das Projekt. Wer sie zum ersten Mal sieht, möchte sie am liebsten dem Film „Herr der Ringe“ zuordnen. Schon allein deshalb begeistern sich immer mehr Unterstützer für großen Bemühungen um deren Rückkehr zu den historischen Brutplätzen.
Seit 2014 erhält das Forschungsprojekt eine europäische Life-Förderung. 2022 wurde die Anschlussförderung in Höhe von sechs Millionen Euro für sieben Jahre bewilligt. Damit sind 60 Prozent der Arbeit abgedeckt. Der Rest kommt von Sponsoren. Bisher seien über 300 Vögel erfolgreich ausgewildert worden, sagt Fritz. „Am Ende soll der Waldrapp wieder eigenständig in der EU leben. Das ist weltweit einzigartig.“ Fritz ist überzeugt, dass es gelingen wird. Allerdings gibt es auch immer wieder Rückschläge, wenn Vögel auf ihrer Reise umkommen.

Zum Beispiel durch Stromschläge an ungesicherten Überlandleitungen oder durch die illegale Vogeljagd in Italien. Windräder seien hingegen kein Problem. Allerdings bereitet der Klimawandel den Zugvögeln Schwierigkeiten. „2022 mussten wir 47 Waldrappe einfangen und über die Alpen bringen, weil sie mit den thermischen Bedingungen nicht zurecht kamen“, erklärt Johannes Fritz. Deshalb soll nun die neue Route von Binningen nach Spanien geflogen werden.