5000 negative Kommentare innerhalb einer Woche. So viel Hass schlug der SPD Gottmadingen entgegen, nachdem sie sich im Rahmen der Bürgermeisterwahl für Transparenz stark gemacht hatte. So schildern es Parteivorsitzender Axel Meyer und Schriftführerin Ulrike Blatter. Einmal distanzierte sich der Ortsverein von Kandidat Roland Kunze, der seine Bewerbung nicht mit seiner Partei abgestimmt hatte, und einmal widersprachen SPD-Mitglieder der Behauptung in einem Forum, dass die Briefwahl zur Wahlmanipulation genutzt werden solle. Und dann, am 22. September zwischen 7 und 8 Uhr, begann der „Sturm auf die SPD„, wie eine Verschwörungs-Aktivistin es bei Facebook nannte.
Die Frau rief ihre knapp 17.000 Abonnenten dazu auf, die Seite der SPD mit Kommentaren zu überfluten. Wenige Wochen später sitzen Axel Meyer und Ulrike Blatter zusammen, um von nervenaufreibenden Wochen zu berichten. Beide sind sich sicher: Das war erst der Anfang. Und es kann jedem passieren.
Tagelang verbergen und löschen die SPD-Mitglieder Hass-Kommentare
Der Ortsverein der SPD hat in den vergangenen Wochen die Schattenseiten sozialer Netzwerke kennengelernt. So schildern es Meyer und Blatter. Die beiden wollen andere Vereine und Organisationen, aber auch Privatpersonen, informieren und sensibilisieren. Denn sie seien von der Online-Aktion völlig überrascht worden. Ziel der Aktivisten sei erklärtermaßen gewesen, dass die SPD ihre Seite löscht. Das kam für den Ortsverein jedoch nicht in Frage. Hass und Hetze sollte aber auch kein Forum auf der Facebook-Seite bekommen. Also haben die beiden tagelang dutzende, hunderte Kommentare verborgen und gelöscht. Das sei eine Herausforderung gewesen: „Betrieben wird die Seite von Leuten, die ehrenamtlich arbeiten“, erklärt Meyer.

Der „Shitstorm“ kann lähmend sein – und sehr real, auch wenn viele ihn nicht sehen
Einen Nachteil hatte die intensive Arbeit: „Je erfolgreicher wir mit Löschen waren, desto mehr Kopfschütteln gab es außerhalb. Denn viele haben nicht gesehen, was da los war“, erklärt Ulrike Blatter. „Diese virtuelle Realität ist sehr real, das kann einen fast lähmen“, schildert sie ihre Erfahrungen. Dass es diesen wortwörtlichen „Shitstorm“ gab, belegen zahlreiche Bildschirmaufnahmen. „Rote Pest“, „Vollpfosten und Faschisten“ oder „Kinderfickerlooser“ sind nur einige von vielen Beschimpfungen unter harmlosen SPD-Beiträgen.
Viele der Kommentatoren seien ihnen fremd gewesen, ohne erkennbaren Bezug zu Gottmadingen und Lokalpolitik. Eine bunte Gruppe vom automatisierten Programm über den Wutbürger bis zum Nachbarn. „Es haben auch Menschen aus der Region gedroht, uns einen Besuch abzustatten“, sagt Blatter. „Ich finde nicht, dass das normal ist. Und man muss nicht alles schlucken.“
Kritik an Facebook: Die Plattform schafft eine gefährliche Filterblase
Den beiden Parteimitgliedern wurde in den vergangenen Wochen einmal mehr bewusst, wie verheerend die Filterblase sein kann, die auf der Plattform entsteht: Mit jeder Reaktion wurden die Beleidigungen mehr Menschen in deren Newsfeed angezeigt. „Diese Menschen haben sich damit gebrüstet, dass sie viele Profile haben“, sagt Ulrike Blatter über die Kommentatoren. So wird die Bühne im sozialen Netzwerk künstlich vergrößert.
Mit dieser Vorgehensweise würden sich bedenkliche Meinungen in die Realität schleichen und populärer wirken, als sie sind, sagt Axel Meyer. Als Beispiele nennt er Fremdenhass oder Verschwörungserzählungen. Der Parteivorsitzende warnt daher: „Die Gesellschaft muss wachsam werden, damit es das gesellschaftliche Miteinander nicht zerstört.“
Angefangen hat es in einer Facebook-Gruppe
Dass das kein Phänomen der Großstadt oder der fernen USA ist, bewies der Bürgermeisterwahlkampf in Gottmadingen. Denn begonnen habe die Auseinandersetzung in der Facebook-Gruppe „Bürgerforum Gottmadingen„, die lange von Kandidat Roland Kunze geleitet wurde. Dort wurde über die Distanzierung der SPD von Kunze diskutiert, dort war auch die Briefwahl ein Thema. Und dort kritisierten immer mehr Menschen, dass Beiträge und Kommentare mit anderen Meinungen gelöscht wurden, wie Ulrike Blatter berichtet.
An einem Namen wollen Axel Meyer und Ulrike Blatter ihre Erfahrungen dennoch nicht festmachen. Roland Kunze sei weiter ein Parteimitglied, ein Parteiausschluss sei momentan nicht absehbar: „Wir können nicht jeden rausschmeißen, der nicht unserer Meinung ist“, sagt Axel Meyer.
Die beiden warnen: Das könnte nur ein Probelauf gewesen sein
Noch prüft die SPD, ob sie auch juristisch gegen die Beleidigungen vorgehen wird. Mit dem Ende der Bürgermeisterwahl am 18. Oktober sei es ruhiger geworden, der Schwarm sei weitergezogen, berichtet Axel Meyer. Er kann dem Sturm auch etwas Gutes abgewinnen: Der Ortsverein habe bestanden und viel Solidarität erfahren, besonders von Jüngeren. Doch eine Befürchtung bleibt: In wenigen Monaten sind Landtagswahlen und dann könnte sich auf Facebook wieder ein Sturm zusammen brauen, von dem offline die wenigsten etwas mitbekommen.
Hass ist online, Hilfe aber auch: Hier finden Betroffene guten Rat
- Die Organisation HateAid wurde als erstes Beratungsangebot für Betroffene von digitaler Gewalt gegründet. Nach eigenen Angaben arbeiten inzwischen 21 Menschen in der gemeinnützigen GmbH daran, das Internet zu einem besseren Ort für alle zu machen. Die Beratungsangebote sind kostenlos, HateAid hilft mit einem Fonds auch bei Prozesskosten. Hilfe fand zum Beispiel auch die Grünen-Politikerin Renate Künast, nachdem sie online massiv beschimpft worden war. In ihrem Fall wurde der mehrfach vorbestrafte Mann letztlich zu elf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Künast: „Der organisierte Rechtsextremismus nutzt Verleumdung gezielt, um Hass gegen politisch unliebsame Menschen zu schüren und sie aus der öffentlichen Debatte und ihrem Engagement zu verdrängen.“
- Die Tipps im Umgang mit Hass im Netz reichen von der richtigen Dokumentation der Beleidigungen bis zu Hilfe suchen. Auch der Gottmadinger SPD-Ortsverein wandte sich an HateAid – laut Schriftführerin Ulrike Blatter fanden sie einerseits emotionalen Beistand, aber auch praktische Tipps. Wichtig sei, dass bei einer Dokumentation per Bildschirmaufnahme auch das Datum zu erkennen ist, falls der Fall mal vor Gericht verhandelt wird, sagt Blatter. HateAid hat einen Leitfaden mit Strategien gegen einen Shitstorm erarbeitet: Man sollte schnell, aber respektvoll und gelassen reagieren. Wichtig sei, sich nicht auf endlose Diskussionen einzulassen und zu erkennen, dass man zu keiner Antwort verpflichtet sei. „Wenn Kommentare zu weit gehen, kannst du sie löschen, melden oder sogar anzeigen“, heißt es bei einem der zehn Tipps.
Weitere Informationen unter www.hateaid.org