Ulrike Blatter

Am heutigen Montag, 30. Januar, vor 90 Jahren wurde Adolf Hitler als Reichskanzler vereidigt. Die Nationalsozialisten verklärten das zum Feiertag der sogenannten „Machtergreifung“. Dabei markierte er das Ende der Weimarer Demokratie und den Beginn der NS-Diktatur. Wie das endete, wissen wir.

Wirklich? Neue Studien offenbaren erschreckende Wissenslücken, was diese Epoche angeht. Das Thema Nationalsozialismus wird häufig auf den Begriff Holocaust verengt. Schauen wir genauer hin: In vielen Ländern wurden Studien zum Thema Holocaust erstellt. Auch in Deutschland. Das Bild ist relativ einheitlich: Zwischen 30 und 40 Prozent der jungen Erwachsenen können kaum etwas mit dem Begriff der Judenverfolgung anfangen. Tendenz des Unwissens in Deutschland: steigend.

Holocaust-Überlebende nehmen im Januar 2023 an einer Kranzniederlegung vor der Todesmauer im ehemaligen deutschen Vernichtungslager ...
Holocaust-Überlebende nehmen im Januar 2023 an einer Kranzniederlegung vor der Todesmauer im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Auschwitz anlässlich des 78. Jahrestages der Befreiung des Lagers teil. Der international begangene Holocaust-Gedenktag am 27. Januar erinnert an die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz 1945. | Bild: Michal Dyjuk/AP/dpa

Dabei wächst mit steigender Distanz zum Thema die Wissenslücke. So fühlen sich Jugendliche in Kanada schlechter informiert als solche in Europa. Wichtiger aber ist die emotionale Distanz. Bislang nahmen Menschen, die diese Zeit erlebten, die schwere Aufgabe auf sich, in Schulen ihre Erfahrungen weiterzugeben. Nun sterben sie oder können kein Zeugnis mehr ablegen.

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Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Damals, in meinem Geschichtsunterricht, stand die Weimarer Republik nur bruchstückhaft auf dem Lehrplan. Ein bisschen Weltwirtschaftskrise, Inflation und Notstandsgesetze – und dann? Dann fiel plötzlich Hitler vom Himmel und aus der Demokratie wurde quasi über Nacht ein Führerstaat mit gut geöltem Alltagsterror.

Wie es dazu kam, wurde allenfalls am Rande beleuchtet. Zensierte Medien und Propagandasprachrohre, Fake getarnt als Fakten, Gewalt gegen politische Gegner und Minderheiten, fehlgeleitete Koalitionen, Korruption, fehlende Gewaltenteilung und Rechtsbeugung und noch vieles mehr.

Die Themen bleiben brandaktuell

Klingelt es bei Ihnen? Diese Themen sind auch heute noch brandaktuell – nicht nur in den sogenannten Schurkenstaaten, sondern auch in der westlichen Wertegemeinschaft. Mehr als ein Viertel der Deutschen will endgültig abschließen mit dem Thema Nationalsozialismus. Das Phänomen ist nicht neu: Es begann mit der Kapitulation. Meine Generation wurde aufgezogen von früheren Soldaten, Trümmerfrauen und Kriegskindern, denen Trauma und familiär verordnetes Schweigen die Lippen verschlossen.

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Meine Generation schrieb die Lehrpläne an Hochschulen, an denen heute Lehrkräfte ausgebildet werden: Im Schnitt gibt es in geisteswissenschaftlichen Fakultäten pro Semester weniger als zwei Veranstaltungen zu den genannten Themen. Vor drei Tagen gedachten wir der Befreiung von Auschwitz. Diese zwei Tage Ende Januar sind auf tragische, schmerzhafte Weise miteinander verbunden. Wie darüber gesprochen wird, muss jede Generation neu beantworten. Aber es ist falsch, diese Frage nicht einmal zu stellen.