Die gegenseitige Wertschätzung zwischen Stadtverwaltung und Caritas ist sofort spürbar. Hier wird deutlich, dass die Annäherung schon längst abgeschlossen ist und man in die Phase der ernsten Gespräche eingetaucht ist. „Konkret seit einem Jahr“, sagt Bürgermeister Michael Klinger, der ausnahmsweise mal wieder ins Gottmadinger Rathaus eingeladen hat, um einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren.
Erschienen sind der Caritas-Vorstand Wolfgang Heintschel sowie Jeruscha Schettler und Stefan Leiber, die das Projekt Neues Wohnen bei der Caritas leiten. Es geht um so sperrige Begriffe wir Bundesteilhabegesetz, Inklusion oder sozialraumorientieres Arbeiten. Bürokratische Formulierungen für das gesetzlich verbriefte Anrecht von Menschen mit Behinderungen auf ein selbst bestimmtes Leben. Und das beginnt in den eigenen vier Wänden. In die Gottmadinger Praxis übersetzt, werden daraus aller Voraussicht nach zwei Wohngemeinschaften für insgesamt 16 Bewohner.
Wolfgang Heintschel ist gleich hellhörig geworden, als das Gottmadinger „Quartier 2020“ erstmals diskutiert wurde. Er stieg gleich mit ein und ist seit einem Jahr mit dem Bürgermeister im Gespräch. Nun erklärt er den Hintergrund. „Die Caritas beschäftigt sich seit 35 Jahren im Hegau mit Wohnangeboten für Menschen mit Behinderungen“, sagt er. „Bereits 2017 hat der Landkreis Konstanz in einer Erhebung festgestellt, dass 17 stationäre Angebote fehlen.“ Die eigene Warteliste enthalte sogar 30 Namen von Menschen mit Behinderungen, die lose nach einer neuen Wohnung suchen. Darunter seien auch Anfragen aus anderen Landkreisen, oder von Eltern, die sich für ihre Kinder mehr Eigenständigkeit wünschten.

„Auf Gottmadingen sind wir gestoßen, weil das ein attraktiver Wohnort mit einer sehr guten Infrastruktur ist“, erklärt Heintschel die Ortswahl. Besonders reizvoll sei für die Caritas aber die Möglichkeit, ganz neue, freiere und offenere Wohnformen von Anfang an mitzuentwickeln. Es soll ausdrücklich kein Heim gebaut werden; es gehe um zwei „anbietergestützte Wohngemeinschaften“ für jeweils acht Bewohner.
Die Unterstützung muss oder soll nicht ausschließlich von der Caritas abgedeckt werden, sondern kann individuell – je nach Hilfebedarf – auch von andern Gruppen geleistet werden. Es gehe um eine starke Vernetzung mit anderen Strukturen, wie zum Beispiel der AWO, der Nachbarschaftshilfe oder Essen auf Rädern. „Für uns ist spannend, dass Gottmadingen ein sehr buntes Quartier entwickeln will“, begründet Wolfgang Heintschel das große Interesse und verweist auf die Vermischung von allen Altersstrukturen und allen sozialen Gruppen. Er ist begeistert von der großen Offenheit der politischen Gremien. Auch wenn es noch keine Verträge gibt, so gibt es doch Absichtserklärungen und viel gewachsenes Vertrauen. „Wir können den Weg ab sofort gemeinsam gehen“, sagt der Bürgermeister. Doch der Gemeinderat tut sich bisher noch einigermaßen schwer mit den Entscheidungen über die sogenannten Leitplanken. Also mit grundsätzlichen Fragen wie: Soll das Gelände als Ganzes geplant und vermarktet werden oder in zwei Abschnitten? Soll die Gemeinde selber bauen oder will man das Gebiet einem Bauträger überlassen? Wie viel Eigentums- und wie viel Mietanteil im Bereich sozialer Wohnraum soll im Quartier entstehen? Welche Einrichtungen werden zwingend benötigt (Café, Apotheke, Kindergarten?) und was ist verzichtbar? Die Diskussion tritt noch ein wenig auf der Stelle.

Das scheint die Vertreter der Caritas nicht zu stören. Sie gehen geradezu euphorisch an die Planung und haben dabei auch noch eine Unterstützung in Höhe von 150.000 Euro von der Aktion Mensch im Gepäck. Und sie haben Zeit. Ein seltenes Phänomen. „Das Projekt ist auf fünf Jahre angelegt“, erklärt Jeruscha Schettler. Jeweils 20 Prozent ihrer Arbeitszeit können sie und ihr Kollege Stefan Leiber in das Wohnprojekt stecken. Ihnen gefällt, dass sie die künftigen Bewohner und ihre Betreuer so früh in die Planung einbeziehen und deren Bedürfnisse ermitteln können. „Es soll keine Ausschlusskriterien geben“, sagt Jeruscha Schettler und bezieht sich dabei auf die UN-Konvention für Behindertenrechte.
Dass eine Achter-WG nicht in eine gewöhnliche Vierzimmerwohnung passt, erklärt sich beinahe genauso von selber wie die Tatsache, dass je ein Pflegebad sinnvoll für die WGs sein könnte. Mit acht Personen bleibt die Caritas unterhalb der gesetzlichen Wohnheim-Größe. In der Wohngemeinschaft sollen die Bewohner ein individuelleres Leben führen können. „Wir wollen Normalität“, sagt Wolfgang Heintschel schlicht.
Caritas Singen-Hegau e.V.
Gegründet wurde der Caritasverband Singen-Hegau nach dem Zweiten Weltkrieg als Außenstelle des Caritasverbandes der Erzdiözese Freiburg. Ziel war die Hilfe für Menschen in Not. In den 1960er Jahren rückten die ausländischen Mitbürger in den Fokus. Die erste Einrichtung der Behindertenhilfe wurde 1970 in Singen aufgebaut. In der Werkstätte St. Pirmin fanden 40 Menschen mit Behinderungen Arbeit. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs und machte neue Strukturen vor Ort nötig. Seit 2008 trägt der von einer Doppelspitze (Wolfgang Heintschel und Oliver Kuppel) geführte Verein den Namen „Caritasverband Singen-Hegau e.V.“. 450 hauptamtlich Beschäftigte engagieren sich zusammen mit 250 Freiwilligen in vielen Bereichen der sozialen Arbeit. Der Verein betreibt in Singen und Stockach Häuser mit besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderungen.Weitere Informationen:
http://www.caritas-singen-hegau.de. (gtr)