Stufe um Stufe steigt er die Treppe hinauf, vorbei an den Sneakerbergen seiner jugendlichen Söhne. Christian Hirschfeld ist fast zwei Meter groß und dünn. Er geht schnell aber ungelenk, so als stünde er unter zu großer Spannung, um seine Knie anzuwinkeln. Am Ende der 30 Stufen, auf dem Dachboden, zwischen Tischkicker und Kinderskiern, steht sein Rollstuhl. Wenn seine Glieder wegen seiner Krankheit steif sind und schmerzen, holt er ihn hervor.
Seit zwölf Jahren kämpft der 46-Jährige täglich mit Multipler Sklerose. In der Nacht des 9. Dezember 2006 erwachte Christian Hirschfeld und spürte ein Kribbeln auf seiner linken Wange. Kreisrund, mit einem Durchmesser von vielleicht zehn Zentimetern.
Am Morgen war seine linke Gesichtshälfte taub, mit seinem linken Auge konnte er kaum noch sehen. Er schlich sich zu seinem Auto und fuhr allein ins Krankenhaus. Trotz ärztlicher Fürsorge ging es Hirschfeld zunehmend schlechter.
Seine rechte Körperhälfte war gelähmt, er wusste nicht mehr, wo oben und unten war, konnte kaum noch riechen, hören und schmecken. „So fühlt es sich an, wenn man stirbt“, dachte er.
Mit einem Kribbeln fängt es an
Dass sein Immunsystem begonnen hatte, seine Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark anzugreifen und sein eigener Körper zu seinem Gegner werden würde, ahnte er damals noch nicht. Nach sieben Tagen in der Klinik erhielt Hirschfeld seine Diagnose. Er leide an der chronischen und unheilbaren Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose.
Die Symptome lesen sich wie eine Liste des Grauens: Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Lähmungserscheinungen, schmerzhafte Muskelanspannungen, unkoordinierte Bewegungsstörungen, Muskelzittern, Blasen- und Sprachprobleme, Schmerzen, sexuelle Funktionsstörungen und chronisches Müdigkeitssyndrom. Eine Ärztin entließ ihn mit dem Hinweis aus der Klinik, dass er in einer Woche wieder arbeiten könne. Ein Irrtum.
„Aus dieser Woche sind zwölf Jahre geworden. So etwas zu sagen. Wie leichtfertig, unbedarft und ätzend“, sagt Christian Hirschfeld bitter. In der Folge seines ersten Krankheitsschubs drohte ihm dauerhaft der Rollstuhl, seine Stimmung schwankte zwischen Depression und Wut: „Ich habe nicht einmal gewagt, meine kleinen Söhne hochzunehmen“, erzählt er.
Hirschfelds vielversprechende Karriere als Pharmavertreter war beendet. Seine Frau musste fortan die finanzielle Last der Familie stemmen, er sich als Rentner um Kinder, Haushalt und sich selbst kümmern.
Ihr eigenhändig renoviertes, verwinkeltes „Hexenhäuschen“ verkauften sie, um in Engen behindertengerecht bauen zu können. Als Hausmann auf dem Dorf bekam er immer wieder dumme Sprüche zu hören. „Da dachte ich: Jetzt erst recht, ihr Penner!“
Kleine Etappensiege
In der Reha suchte er das Gespräch mit den MS-Patienten, für die der Rollstuhl zum Alltag gehörte, weil er wissen wollte, wie sein „Gegner“ aussah. Er wollte den Kampf mit seinem Körper gewinnen. Früher war er Handballer und Leichtathlet, nun trainierte er, wie man eine Gabel zum Mund führt und die Füße beim Gehen abrollt. Und er hatte das Glück, dass ihn kein weiterer Krankheitsschub ereilte.
Heute kann Hirschfeld wieder ohne Hilfsmittel gehen. Und Spaghetti Bolognese für seine Kinder kochen. Ein weiterer Etappensieg. An schlechten Tagen sei selbst ein Spiegelei zu braten zu viel für ihn, sagt Hirschfeld.

Sein Gesicht ist hager, die braunen Augen sind von Schatten umgeben. „Vor Ausbruch meiner Erkrankung gingen für mich ganz viele Träume in Erfüllung. Ich hatte meine starke Frau, meine Kinder, meine Karriere, mein Traumhaus. Und plötzlich war alles anders.“
Auch wenn er seinen Körper an manchen Tagen verfluche, habe er nie an Selbstmord gedacht, sagt Hirschfeld. „Meine Familie, meine zwei Jungs, die sind mein Auftrag.“
Dann erklärt er: „Ich habe dieses kämpferische Naturell. Ich gehe meinen Weg.“ Auch gegen ärztlichen Rat. Die Medikamente der Basistherapie, die sein autoagressives Immunsystem in Schach halten sollten, setzte Hirschfeld ab.
Heute kommt er mit Präparaten gegen Spasmen und medizinischem Marihuana zur Behandlung seiner chronischen Schmerzen durch den Tag. „Man hat ja leider nur einen Körper, einen Geist und ein Leben. Und wer, wenn nicht man selbst, soll dafür Verantwortung übernehmen?“
Nach über zwölf Jahren Erwerbsminderungsrente beginnt er jetzt sogar wieder zu arbeiten. Mit einem befreundeten Apotheker baut er gerade eine Onlineapotheke für medizinische Cannabisprodukte auf.
Weg zurück zum Arbeitsplatz
Auf dem Dachboden angekommen, muss sich Christian Hirschfeld tief hinunterbeugen. Er holt „seinen Rolli“ hervor. Sechs Jahre ist es her, dass er ihn zuletzt brauchte. Hirschfeld grinst und offenbart eine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen.
Der Rollstuhl macht ihm keine Angst mehr. „Natürlich ist mein Leben mit MS ein Krampf-Kampf. Sisyphos ist ein Scheiß dagegen“, sagt er, „aber heute bezeichne ich es lieber als einen Tanz.“ Sein Körper sei nicht länger sein Gegner, sondern sein Partner.
Die Krankheit
In Deutschland leben einer Studie aus dem Mai 2018 zufolge immer mehr gesetzlich Versicherte mit Multipler Sklerose. Ihr Anteil wuchs demnach innerhalb von sechs Jahren von rund 0,25 Prozent auf knapp 0,32 Prozent: 2015 wurden rund 224 000 Versicherte wegen der Krankheit behandelt – gut 51 000 mehr als 2009.
"Studien aus anderen westlichen Ländern haben gezeigt, dass die Lebenserwartung von MS-Patienten zugenommen hat und wir gehen davon aus, dass das auch in Deutschland der Fall ist", sagte Mitautor Jakob Holstiege vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung im Vorfeld des Welt-MS-Tages am 30. Mai. Zudem erkrankten heute in unseren Breitengraden tatsächlich mehr Menschen neu an MS.
Die nicht heilbare chronisch entzündliche Autoimmunerkrankung äußert sich in neurologischen Ausfällen. Früher sei davon ausgegangenen worden, dass es etwa der Hälfte aller Patienten nach fünf bis zehn Jahren dauerhaft schlecht ginge und sie nicht mehr arbeiten könnten, sagte Heinz Wiendl, Direktor der neurologischen Klinik Münster und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Kompetenznetzes Multiple Sklerose.
"Das hat sich dank neuerer Therapien deutlich gebessert": 80 bis 90 Prozent der konsequent Therapierten befänden sich heute nach diesem Zeitraum in einem identisch neurologischen Zustand wie zu Therapie-Beginn.