Es ist früh morgens und der Atem kondensiert wegen der frischen Außentemperatur noch vor dem eigenen Gesicht. Wie angewurzelt steht ein tief schwarzes Pferd mit einem angewinkelten Hinterlauf auf der Koppel des Reitstalls Thoma in Remetschwiel. Von drinnen sind bereits Besen zu hören, und nach draußen dringt der sanfte Geruch nach frischem Heu.
Annika Viecenz steigt fröhlich lächelnd aus ihrem Auto und läuft zielstrebig auf den Vereinsraum oberhalb der Reithalle zu. Zusammen mit ihrem Pferd Ricky ist sie in diesem Jahr baden-württembergische Landesmeisterin in der Disziplin Superhorse im Westernreiten geworden. Der Handschlag zur Begrüßung fällt wegen Corona aus. Während sie die Stufen zu dem kleinen Räumchen nach oben steigt, klirren ihre Rollsporen an den Reistiefeln bei jedem Schritt leise mit.
Oben angekommen reicht der Blick über die gesamte Reithalle. Die 18-Jährige hat gerade erst ihr Abitur bestanden und fängt im November in Aachen an, das Fach „International Business“ zu studieren. Zuhause und abseits ihrer Zukunftsplanung legt sie beim Reiten viel Wert darauf, ihr Pferd Ricky nicht einseitig zu belasten: „Ich gehe oft in den Wald und lasse ihn dort beim Ausreiten entspannen.“ Neben ihrem Landesmeistertitel im Superhorse wurde sie mit Ricky zum besten Pferd-Reiter-Paar in ihrer Liga gekürt. Das liegt vor allem an ihrer Liebe für Pferde und ihrem Motto: „Das Pferd soll mein Partner sein und nicht nur ein Turniersportler.“

Annika kam schon früh in Kontakt mit dem Westernreiten. Auf den Wunsch ihrer Mutter hin, kaufte sich Familie Viecenz vor rund zehn Jahren ein Pferd. Zufälligerweise war Ricky zum Zeitpunkt seiner Vermittlung sowohl von der Rasse, als auch von der Erziehung, schon ein ausgebildetes Westernpferd. Über die Jahre sind Annika und Ricky zu einem Team zusammengewachsen. Auf Turnieren sind die beiden seit vier Jahren aktiv dabei und arbeiten sich seitdem von Jahr zu Jahr weiter nach oben. Im kommenden Jahr ist dann die deutsche Meisterschaft ihr Ziel. Die Qualifikation haben sie schon.
Westernreiten als Randsportart
Westernreiten gilt oftmals als Randsportart und ist gerade in Deutschland nicht weit verbreitet. Dabei gebe es mehr Disziplinen als im Dressurreiten, erklärt die 18-Jährige. Annika tritt bei Wettkämpfen in sechs Disziplinen an: Trail, Ranch Riding, Pleasure, Superhorse, Western Horsemanship und Western Riding. Weil gute Reitlehrer in ihren Disziplinen am Hochrhein selten seien, fährt sie alle zwei Monate zum Training nach Stuttgart. Dort nutzt sie die Reitstunde, um neue Impulse zu lernen, die es dann zu Hause umzusetzen gilt. Ihre Ziele setzt sie sich dabei selbst.

Es ist Trainingszeit und Annika schlägt vor, Ricky zu richten, um dann mit ihm in der Halle zu trainieren. Eine einmalige Gelegenheit, die beiden bei ihrer Lieblingsbeschäftigung zu beobachten. „Westernreiten ist eine Impulsreitweise“, erklärt sie. Das bedeutet, dass Annika Ricky nicht die ganze Zeit befehlen muss, was er zu tun hat. Durch ein kurzes Signal weiß er, was er machen muss und führt dann den Befehl aus. Ein weiterer Unterschied zum bekannten Englischreiten ist das einhändige Reiten mit den langen Zügeln. Die Impulse werden zunächst immer über die Gewichtsverlagerung gegeben. Mit den Beinen spricht der Reiter zusätzlich gezielt Muskeln an der Flanke des Pferds an. „Die Zügel sollten eher weniger eingesetzt werden.“
Schade findet Annika, dass an Westernreitern das Vorurteil hafte, sie seien die lässige Variante der Turnierreiter. Auch Annika reitet in einer gewöhnlichen, blauen Jeans und sieht dabei sehr entspannt aus. Wäre sie bereits 19 dürfte sie sogar mit Cowboyhut reiten. Von ihrem Verband der Ersten Westernreiter Union Deutschlands (EWU) sei aber vorgeschrieben, dass sie bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr einen Helm tragen muss. Annika und Ricky beweisen während ihres Trainings allerdings, dass die Reitsportart auch anstrengend sein kann. Beide kommen trotz der Kälte sehr schnell ins Schwitzen.

Mittlerweile besitzt Familie Viecenz drei Pferde auf dem Reitstall Thoma, die unter anderem alle ehrenamtlich als Therapiepferde in Zusammenarbeit mit der Caritas eingesetzt werden. Es ist 11 Uhr, nicht mehr ganz so kalt und der Atem kondensiert nicht mehr in der Luft. Stattdessen trauen sich vereinzelt Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, die das schwarze Pferd auf der Koppel langsam mit Leben erfüllen.