In einem Rechtsstreit um Einsicht in die Dokumente sprach der eidgenössische Datenschutzbeauftragte von der „Gefahr einer großräumigen radioaktiven Verstrahlung“.
Mehr als 100 000 Verkehrsflugzeuge schweben jährlich über das deutsche Hochrheingebiet auf den Schweizer Flughafen Zürich-Kloten ein. Die Diskussion um den Airport dreht sich meist um die Lärmbelastung, während eine ganz andere Gefahrendimension bislang eine Nebenrolle spielte: 32 Kilometer beziehungsweise 26 Kilometer von den Pisten entfernt stehen nahe der deutschen Stadt Waldshut-Tiengen die Schweizer Atomkraftwerke Leibstadt und Beznau.
Was passiert, wenn ein Jet auf einen der Reaktoren stürzt?
Bereits im Jahr 2003 hatte die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK), Vorgängerbehörde des heutigen Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI), eine Stellungnahme „zur Sicherheit der schweizerischen Kernkraftwerke bei einem vorsätzlichen Flugzeugabsturz“ veröffentlicht. Anlass waren die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. Damals gab die Atomaufsicht Entwarnung. So heißt es in dem Bericht unter anderem: „Beim Aufprall auf ein Kernkraftwerk wird ein Flugzeug – anders als bei den Anschlägen auf das World Trade Center – bereits außerhalb des Gebäudes fast völlig zerstört. Außerdem bestätigen neuere internationale Experimente und Analysen, dass die aus massivem Stahlbeton gebauten Reaktorgebäude einer deutlich größeren Belastung standhalten, als bisher nachgewiesen wurde.“ Als Beleg führte die Behörde den Verlauf des Anschlags auf das Pentagon auf, wo massive und gegen Explosionen verstärkte Stahlbetonwände zu einer Beschädigung des Flugzeugs geführt hätten. Hinzugekommen seien hier schwierigere Anflugbedingungen wegen der mit 22 Metern verhältnismäßig niedrigen Höhe des Gebäudes – schließlich hätten die Terroristen das Ziel nicht getroffen, die Maschine sei vor dem Pentagon aufgesetzt.
„Zielgenauer Anflug unwahrscheinlich“
Die Atomaufsichtsbehörde: „Sowohl bezüglich der Anflugbedingungen als auch der statischen und brandtechnischen Voraussetzungen zeigt das Pentagon mit der lokalen Schädigung des Gebäudekomplexes markante Unterschiede zu der totalen Zerstörungscharakteristik des World Trade Centers.“ Die beiden Türme des World Trade Center mit einer Höhe von 340 bis 370 Metern seien „bei klarem Wetter relativ einfach anfliegbar“ gewesen seien, erklärte die Behörde. Hingegen: „Die Kernkraftwerk-Reaktorgebäude sind dagegen maximal circa 50 Meter hoch. Vorgelagerte topographische Hindernisse lassen nur bestimmte Anflugrichtungen zu und bauliche Hindernisse, die knapp die Hälfte der Gebäudehöhe abdecken, machen einen schnellen und zugleich zielgenauen Anflug unwahrscheinlich.“ Zielrichtung dieses Befunds: Wie das Pentagon wäre auch ein Atomkraftwerk kein leicht zu treffendes und zerstörendes Anschlagsziel. Doch nicht alle Experten teilen die Einschätzung der Atomaufsicht. Im Jahr 2011 erklärte die deutsche Pilotenvereinigung Cockpit: Moderne Verkehrsflugzeuge seien in der Lage, blind bis auf wenige Meter genau zu navigieren. Ein so großes Ziel wie ein Atomkraftwerk zu treffen, sei für eine Person mit entsprechender Schulung nicht schwer. Der Schweizer Berufspilot Max Tobler, der früher für die Swissair flog, sieht dies genauso.
Unklar ist, wie gut die Schweizer Atomkraftwerke gegen einen Absturz moderner Verkehrsmaschinen, wie etwa des Airbus A380 geschützt sind. | Bild: Etienne Laurent (EPA)
Sicherheitsbegriffe sind relativ
Umstritten sind auch die Auswirkungen, falls es tatsächlich zu einem Flugzeugabsturz auf einen Reaktor käme. Die älteren Anlagen in Beznau sowie Mühleberg bei Bern waren ursprünglich gar nicht gegen einen Flugzeugabsturz ausgelegt. Nachrüstungen mit autarken, gebunkerten Notstandssystem brachten sie laut ENSI auf das Niveau, das beim Bau der neueren Kernkraftwerke Leibstadt gegenüber Waldshut-Tiengen und Gösgen im Kanton Solothurn gefordert wurde: Zugrundegelegt war ein Szenario mit einer Boeing 707. Im Jahr 2011 bekräftigte die Aufsichtsbehörde ihren Befund von 2003 und erklärte: "Kernkraftwerke sind ausreichend geschützt gegen Flugzeugabstürze." Die Anlagen in Leibstadt und Gösgen hätten einen „Vollschutz gegen die Absturzfolgen eines modernen, voll betankten Langstrecken-Verkehrsflugzeugs". Damit bleiben allerdings offene Fragen nicht nur in Bezug auf Beznau und Mühleberg – ein Jumbo-Jet etwa ist mit seinem Leergewicht von 162 Tonnen mehr als doppelt so schwer wie eine 707 – sondern auch im Blick auf Leibstadt und Gösgen. Denn seit 2007 ist der Airbus A380 in Dienst, der ein Leergewicht von 275 Tonnen auf die Waage bringt. Drei der Giganten starten täglich in Zürich-Kloten. Wie relativ Sicherheitsbegriffe sind, zeigen die Schlussfolgerungen der Atomaufsichtsbehörde aus den Untersuchungen: Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Flugzeugabsturz Radioaktivität freigesetzt wird, sei in Leibstadt und Gösgen „sehr niedrig“ und in Beznau und Mühleberg „niedrig“.
Im Jahr 2013 sah sich das ENSI zu einer aktualisierten Untersuchung veranlasst. Die Atomkraftwerke wurden aufgefordert, neue Flugsimulator-Versuche anzustellen. Seit Dezember 2014 liegen dem ENSI die Daten vor. Doch die Dokumente sind als geheim eingestuft. Die Begründung durch das ENSI: Die Informationen könnten für terroristische Zwecke genutzt werden. Weil ein Schweizer Privatmann vergeblich auf Einsicht in die Unterlagen klagte, ist allerdings der Tenor der Analysen bereits öffentlich geworden: Der Schweizer Datenschutzbeauftragte sprach von der „Gefahr einer großräumigen radioaktiven Verstrahlung“. Laut Auskunft des ENSI wird derzeit der Gesamtbericht zum Thema Absturzrisiko erstellt. Wann und in welcher Form zumindest Teile davon öffentlich vorgestellt werden, ist bislang nicht bekannt. Sebastian Hueber, Leiter Kommunikation beim ENSI: „Wir werden die Öffentlichkeit darüber informieren, wenn die Arbeiten abgeschlossen sind.“
„Ein Grund unter vielen"
Die Gefahr eines Flugzeugabsturzes ist nur ein Grund unter vielen, auf die Nutzung der Atomenergie zu verzichten. Die Atomenergie ist schlichtweg nicht zu 100 Prozent beherrschbar. Es verbleibt immer ein Restrisiko.“ Dies erklärte auf Anfrage dieser Zeitung Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Waldshut und Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium. Die Politikerin: „Nach meiner Auffassung sollte eine grenzüberschreitende Prüfung der Umweltverträglichkeit nicht nur dann Pflicht sein, wenn es um den Neubau von Anlagen geht. Sie sollte auch dann verpflichtend sein, wenn die Laufzeit betagter Atomkraftwerke verlängert wird. Das ist bislang im Fall der Schweiz nicht erfolgt.“