Willi Adam

Lörrach – Weihnachten erzählt in erster Linie die große Geschichte von der Menschwerdung Gottes Sohn. Doch in der Nebenhandlung geht es bezeichnenderweise um ein Thema, das nicht zufällig Eingang in den Katalog der Menschenrechte gefunden hat und das heute, 2000 Jahre später, der Gesellschaft auf den Nägeln brennt: Die Suche nach einer angemessenen Unterkunft. In Lörrach kümmert sich das Erich-Reisch-Haus um solche Problemlagen.

Von außen scheint das Erich-Reisch-Haus wie ein ganz normales Gebäude an der Lörracher Wallbrunnstraße. Wer nicht Bescheid weiß, würde nicht denken, dass sich hinter der schmucklos-praktischen Fassade eine Obdachloseneinrichtung verbirgt. Nach der Eingangstür drängt sich gleich der Vergleich mit einer Herberge auf: Pforte, Speisesaal, gewienertes Treppenhaus, Glastüren an den Eingängen zu den Stockwerken, dahinter die Zimmer. Mit dem Nachtasyl vergangener Zeiten hat die Einrichtung (fast) nichts mehr zu tun. Zwar gibt es noch die herkömmliche Notschlafstelle, im Wesentlichen aber geht es um ein Netz von Hilfen.

Stefan Heinz leitet das Erich-Reisch-Haus, das zum „AGJ – Fachverband für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg“ gehört, also zu einer katholischen Einrichtung. Ausgehend vom Erich-Reisch-Haus hat die AGJ-Wohnungshilfe im Kreis Lörrach die klassische Obdachlosenhilfe um eine mittlerweile als modellhaft anerkannte Präventionsarbeit ergänzt. Unter dem Titel Fachstelle für Wohnungssicherung, betreut von Sylvia Ziegler, kümmert sich die AGJ im ganzen Landkreis um alle Fälle von prekärer, sprich unsicheren Wohnsituationen.

Droht die Kündigung oder liegt gar schon der Räumungsbefehl vor, dann versucht die Fachstelle zu vermitteln und zu retten, was noch zu retten ist.

Solche unsicheren oder ungeklärten Situationen sind die heutigen Erscheinungsformen von Obdachlosigkeit. Wirklich auf der Straße stehen solche Personen nicht unbedingt, denn sie müssen von den jeweiligen Gemeinden wie auch immer in Wohnraum eingewiesen werden. Dieses Schicksal, in einer Art Schwebezustand leben zu müssen, teilen nach AGJ-Zahlen im Kreis Lörrach etwa 2200 Menschen – oft sind es Familien und somit auch Kinder. Insgesamt entspricht das zwar nur einem Prozent der Bevölkerung, doch die absoluten Zahlen sind nur schwer hinzunehmen, meint Stefan Heinz. Besonders erschreckend: Immer häufiger handelt es sich um Menschen, die einer regulären Arbeit nachgehen. Das heißt, ein geregeltes Einkommen schützt längst nicht mehr vor Obdachlosigkeit. Gründe sind der Mangel an Sozialwohnungen, hohe Mieten und der leer gefegte Wohnungsmarkt, der Menschen mit geringem Einkommen oft in zu teure Wohnungen zwingt, die bei der geringsten anderweitigen Belastung nicht mehr zu bezahlen sind.

Wenn aus der akuten Bedrohung tatsächliche Obdachlosigkeit geworden ist – im Kreis betrifft das 500 Personen, in Lörrach etwa 300 – dann folgt die Einweisung in Notunterkünfte durch die Kommune. Oder der Einzug ins Erich-Reisch-Haus. Im Haus selbst und in benachbarten Wohngruppen gibt es rund 60 Plätze, die für unterschiedliche sozialrechtliche Situationen bereitstehen. Wer sie nutzt, muss sich einerseits einem Regelwerk, etwa hinsichtlich Alkohol und Rauchen unterwerfen. Andererseits erfährt er Hilfe.

Gemeinsam mit den Sozialarbeitern sollen die Obdachlosen möglichst schnell wieder aus ihrer Situation herausfinden. Die Betroffenen, es sind 18-Jährige ebenso wie 80-Jährige, erhalten eine Hilfe bei der Tagesstruktur und ein Coaching für den Weg zurück in eine gesicherte Wohn- und Lebenssituation. Je nach Maßnahme liegt die Aufenthaltsdauer zwischen zwei Monaten und zwei Jahren. Immer häufiger finden die Menschen schneller eine eigene Arbeit als eine eigene Wohnung.

Nachts wird der Speisesaal des Erich-Reisch-Hauses zur Notschlafstelle umgebaut. Wer aktuell eine Krise hat oder wer eigentlich auf der Straße lebt und zum Beispiel wegen der Kälte einen geschützten Platz braucht, kann kommen. Aber nicht alle wollen das. Derzeit leben etwa zehn Personen tatsächlich auf der Straße. Ganz vergessen sind auch sie nicht. Regelmäßig geht ein Streetworker zu den einschlägigen Plätzen und bietet Hilfe an. Mit dem Angebot, in eine Einrichtung zu kommen, können diese Menschen vielfach nichts anfangen. Stefan Heinz sagt, das müsse man akzeptieren: „Wir bieten die Hand, aber nicht alle sind so weit, sie zu nehmen.“