Johannes Renner

Frau Eisenmeier, wie sind Sie zur Alphabetisierung gekommen?

Am Hochrhein begann ich zunächst damit, Italienisch an der Volkshochschule zu unterrichten. Kurze Zeit danach wurde ich von einer Firma angesprochen, ob ich denn nicht Italiener im Betrieb in Deutsch unterrichten könnte. Das war mir damals fremd, da ich meine Muttersprache nicht erklären konnte. Jemandem zu erklären warum es einmal „die Küche“ und ein anderes Mal „der Küche“ heißt konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich musste damals vom Sprachverband aus an einer Schulung im Goethe-Institut in München teilnehmen und bekam dann die Zulassung zur Sprachkursleiterin für ausländische Mitarbeiter und Arbeitnehmer. Über ein Fernstudium habe ich mich zur Übersetzerin weitergebildet aber bald gemerkt, dass das Übersetzertum nicht das Meinige ist, sondern dass die Menschen im Vordergrund zu stehen haben.

Margot Eisenmeier schildert Südkurier-Mitarbeiter Johannes Renner ihre Eindrücke aus der Arbeit im Bereich der Alphabetisierung.
Margot Eisenmeier schildert Südkurier-Mitarbeiter Johannes Renner ihre Eindrücke aus der Arbeit im Bereich der Alphabetisierung. | Bild: Rolf Sprenger

Wer ist betroffen und wie kommt es zu Analphabetismus?

Es ist ein komplexes Thema. Es ist das Elternhaus, die Schule, und Umstände wie Armut, die eine Rolle spielen. Wenn die Eltern nichts mit Lesen und Schreiben zu tun haben, wird es schwierig. Die ersten zwei Schuljahre sind entscheidend. In unserem Bildungssystem ist das die einzige Chance, um Lesen und Schreiben zu lernen. Danach haben sie ohne speziellen Förderunterricht keine Chance mehr, Lesen und Schreiben zu lernen. Die Alphabetisierungsproblematik ist noch immer nicht Teil der Lehrerausbildung. In der Schule haben die Lehrkräfte zudem auch nicht die Kapazität, auf jedes Kind einzeln einzugehen, da es einfach zu viele Schüler sind. Lehrer bräuchten da mehr Unterstützung.

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Welche Rolle spielt Migration bei der Entwicklung des Analphabetismus?

Je nach Herkunftsland ist die Zahl der Analphabeten sehr groß. Gambia hat eine Analphabeten-Quote bei den jungen Männern von 58 Prozent. Bei Menschen aus Syrien sind es vor allem die Frauen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Es kommt auf die Ethnie und den kulturellen Hintergrund an. Für manche Menschen war es bisher nicht nötig, da es mit ihrem Leben nicht zu tun hatte. Die kommen dann in ein Industrieland wie Deutschland. Das sind Dinge, die sich seit 2015 natürlich massiv verschärft haben.#

Sind es generell eher Frauen oder Männer, die nicht lesen und schreiben können?

Es sind insgesamt mehr Männer betroffen, wobei es auch wieder auf den kulturellen Hintergrund ankommt. In Syrien sind vor allem die Frauen schlecht literarisiert. Afghanistan wird da nun wohl leider auch wieder in Spitzenränge vorstoßen. Die Integration von Migranten kann dann auch nicht so schnell erfolgen, wie manch einer sich das vorgestellt hat. Da wurde in den letzten Jahren viel Lehrgeld bezahlt. Auch in scheinbar einfachen Berufen wie in der Gastronomie oder der Pflege, die gerne als Einstieg für Migranten genannt werden, ist sprachliches und mathematisches Verständnis nötig. Nicht Lesen und Schreiben zu können, geht auch fast immer damit einher, nicht rechnen zu können. Die Fähigkeit zur Abstraktion ist dann nicht da.

Wie groß ist die Zahl Betroffener am Hochrhein?

Wir haben hier im Kreis Waldshut circa 8000 Leute, die betroffen sind, also die wenig bis kaum literalisiert sind. Die Berechnungsgrundlage ist die Leo-Studie 1 von 2018. Wir gehen da deutschlandweit von 6,2 Millionen Leuten aus, also deutschsprachige Leute, die kaum Lesen und Schreiben können. Und dann kommen noch knapp elf Millionen dazu, die einen Text zwar lesen aber nicht verstehen können. Das sind schon sehr, sehr viele. Und es werden mehr. Dank unserer Sprachassistenz und all den unterstützenden Programmen.

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Die Digitalisierung verschärft also das Problem?

Es kommt darauf an, wie man ein Werkzeug benutzt. Ich kann mit einem Hammer schöne Dinge tun oder Schreckliche. Ich habe zum Glück jetzt drei Personen hier, die so weit sind, dass ich sie über Computerverbindung weiter erreichen kann. Dazu nutze ich ein Portal des Volkshochschulverbands. Das heißt ich unterrichte sie auch zu Hause weiter per PC. Digitalisierung kann als Ergänzung ein Segen sein. Aber die Verschärfung ist definitiv da. Auch Übersetzerprogramme, so gut sie auch gemeint sein mögen, sind für unsere Klienten schädlich. Die Digitalisierung verleitet immer mehr Menschen dazu nur noch zu tippen und nichts mehr von Hand zu schreiben. Dabei ist das Schreiben von Hand der Schlüssel zur Sprache. Wenn wir aufhören mit der Hand zu schreiben, dann haben wir verloren.

Was berichten Ihre Kursteilnehmer über Ihre Situation?

Im Normalfall hat man als Betroffener eine Person bei sich. Irgendjemand hilft einem immer. Sonst würde es nicht so lange funktionieren, ohne aufzufallen. Irgendwann kann der Leidensdruck aber sehr groß werden, besonders dann, wenn die Vertrauensperson, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr da ist. Analphabetismus ist noch immer ein Tabu-Thema. Ein Teilnehmer berichtete einmal, man könne sich in Deutschland mit allem outen. Ob man nun HIV-positiv sei, Alkohol oder drogenabhängig. Aber sage niemals, du kannst nicht lesen und schreiben.

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Worauf kommt es beim Lernen an?

Erwachsene lernen anders als Kinder. Die Wiederholung ist besonders wichtig, um sogenannte Gedächtnisspuren aufzubauen. Beim Sprachenlernen kommt es auf das Schreiben, Wiederholen und Anwenden an.

Was sind Ihre Prognosen für die Zukunft und wie kann gegengesteuert werden?

Das Problem könnte sich in Zukunft noch verschärfen. Wir haben jetzt jeden fünften Schulabgänger, der zusammenhängende Texte nicht lesen kann. Stellen Sie sich vor, so jemand kommt in eine Ausbildung und hat ein Lehrbuch vor sich. Da würde ich sagen, dieser Mensch wird viele Probleme haben. Wir brauchen mehr Förderlehrer und eine gesellschaftliche Sensibilisierung.