Langsam öffnet Kerstin Studinger die Schiebetür ihres Kleiderschranks. Darin hängen, ordentlich auf Kleiderbügeln drapiert, zahlreiche Strickjacken. Diese haben zwar unterschiedliche Farben und Muster, aber eines gemeinsam: Sie sind alle lang – ähnlich wie ein Mantel. "Ich trage immer knielang", erzählt die junge Frau aus Wutöschingen-Ofteringen. Denn Kerstin Studinger ist es unangenehm, ihre Oberschenkel zu zeigen. Die 32-jährige Angestellte leidet an einem Lipödem. Dabei handelt es sich um eine Fettverteilungsstörung. Umgangssprachlich wird die Krankheit auch Reiterhosensyndrom genannt. Bislang vergeblich bemüht sich Studinger bei ihrer Krankenkasse um die Kostenübernahme einer Operation, die die Krankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit dauerhaft heilen würde.

"Ich war nie dick, und meine Figur war immer proportional", sagt Kerstin Studinger, die bis vor ein paar Jahren gar nichts von ihrer Krankheit wusste. Als sie ungefähr 20 Jahre alt war, bemerkte sie das erste Mal, dass ihre Beine anschwollen und schmerzten, als sie in den Urlaub flog. "Aber ich dachte, das wäre bei Flügen normal", erinnert sie sich. Erst im Jahr 2011, als sie sich während eines Urlaubs massieren ließ, sprach sie der Masseur an und empfahl ihr, zum Arzt zu gehen. Dieser stellte dann die Diagnose Lipödem – eine Krankheit, die vor allem Frauen betrifft.

Strumpfhose wie eine Zwangsjacke

Bundesweit sind schätzungsweise zwischen drei und vier Millionen Frauen betroffen. Sie leiden an schmerzhaften Schwellungen der Beine und in vielen Fällen auch unter dicken Armen. "Schon morgens tun die ersten Schritte weh", beschreibt Kerstin Studinger die Symptome. Um die Schmerzen zu lindern, trägt die junge Frau mit den blonden Haaren jeden Tag eine Stützstrumpfhose. Angenehm sei dies nicht. Die schwarze Strumpfhose fühlt sich wie eine Zwangsjacke – nur für die Beine – an. "Um überhaupt hineinzukommen, muss man hineinhüpfen", erzählt Kerstin Studinger. Außerdem trägt sie beim Anziehen Noppenhandschuhe, damit der Stoff nicht reißt.

Kerstin Studinger zeigte eine Stützstrumpfhose, die sie täglich tragen muss, um ihre Schmerzen zu lindern.
Kerstin Studinger zeigte eine Stützstrumpfhose, die sie täglich tragen muss, um ihre Schmerzen zu lindern. | Bild: Juliane Schlichter

Körperbetonte Kleidung kann die 32-Jährige über der Stützstrumpfhose nicht tragen. Gerne würde die Management-Assistentin im Büro einen Hosenanzug oder einen engen Rock tragen, doch das geht nicht. "Über dem Bund quillt alles raus", erzählt sie. Bei großer Hitze wie im vergangenen Sommer sei die dicke Strumpfhose unter der Kleidung "eine Zumutung", wie Studinger sagt. "Man hat die Wahl: Entweder man zieht die Strumpfhose an oder hat Schmerzen", fügt sie hinzu.

Lymphdrainage verschafft Linderung

Linderung verschafft der Lipödem-Patientin auch die sogenannte Lymphdrainage, die Kerstin Studinger zweimal in der Woche über sich ergehen lässt. Bei der ambulanten Behandlung bringt der Therapeut durch verschiedene Handgriffe die gestaute Lymphflüssigkeit wieder in Bewegung. "Die Lymphdrainage hilft mir sehr. Kurzfristig sind die Schmerzen für ein paar Tage gelindert", sagt Studinger.

Damit sie regelmäßig ein Rezept für die Lymphdrainage bekommt, muss sie allerdings jedes Jahr von einem Facharzt den Nachweis erbringen, dass sie an einem Lipödem leidet. Und das, obwohl die Krankheit ohne Operation nicht heilbar ist. "Das ist für mich ein Widerspruch", sagt sie. Einen Termin beim Facharzt zu bekommen, sei schwierig. Um den jüngsten Nachweis fristgerecht einreichen zu können, musste die junge Frau die Feldbergklinik in St. Blasien, einer Fachklinik für Lymphologie, aufsuchen und den Arztbesuch aus eigener Tasche bezahlen.

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"Die Krankheit beeinträchtigt ganz stark meine Lebensqualität", sagt Studinger. Neben den Schmerzen und der Zeit, die sie für Arztbesuche, die Lymphdranaige sowie Sportkurse investieren muss, kommt die psychische Belastung. Sich im Bikini im Freibad zu zeigen, komme für sie nicht in Frage. Hoffnung, die Krankheit und die damit verbundenen Einschränkungen loszuwerden, setzt Kerstin Studinger in eine Operation. In Begleitung ihres Mannes Jan hat sie sich 2016 von dem Dermatologen und Lymphologen Manuel E. Cornely in Köln untersuchen lassen. "Der Doktor hat mir empfohlen, die OP zu machen – je früher desto besser", erzählt sie. Denn mit steigendem Alter nehmen die Beschwerden zu. Eine OP an der Kölner Privatklinik kostet 18 000 Euro. Eine Summe, die das junge Paar nicht aus dem Stand aufbringen kann. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für die Operation allerdings nicht.

Bild 2: Eine junge Frau leidet an einem Lipödem. Eine OP könnte die Krankheit heilen, aber die Krankenkasse verweigert die Übernahme der Kosten
Bild: Juliane Schlichter
„Man hat die Wahl: Entweder man zieht die Strumpfhose an oder hat Schmerzen.“
Kerstin Studinger, Lipödem-Betroffene

Tausende Euro kosten pro Jahr

"Die Lymphdrainage kommt auf Dauer viel teurer", sagt Jan Studinger. Laut der Berechnung des 34-Jährigen übersteigen die Kosten für die Drainage (3360 Euro pro Jahr) und die Stützstrumpfhose (500 Euro pro Jahr) nach fünf Jahren die Kosten für die OP. Das bedeutet, dass die Krankenkasse in den kommenden Jahrzehnten für die wöchentliche Behandlung von Kerstin Studingers Lipödem ein Vielfaches übernehmen muss, als wenn sie die einmaligen Kosten für die Operationsmethode Liposuktion bezahlen würde, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit heilen würde.

Weil Kerstin Studinger diese Rechnung unlogisch erscheint, hat sie versucht, ihre Krankenkasse, die AOK Hochrhein-Bodensee, von der Kostenübernahme zu überzeugen. Vergeblich. Als Antwort habe sie erhalten, dass es sich um keine tödliche Krankheit handele. Mit dieser Auskunft wollte sich die Patientin nicht zufrieden geben und klagte vor dem Sozialgericht in Freiburg – wieder ohne Erfolg. Für eine weitere Instanz, dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, "ging mir die Kraft aus", erzählt sie mit Tränen in den Augen.

Das sagt die Krankenkasse

Als sie sich mit ihrer Geschichte an die Redaktion dieser Zeitung wandte, hatte sie nicht die Absicht, "damit Mitleid zu erwecken", wie Studinger betont. "Mein Wunsch wäre, dass die Kasse und entgegenkommt", fügt sie hinzu. Doch dies ist bislang nicht der Fall. Auf Nachfrage dieser Zeitung teilt Gerhard Gottwald, Pressesprecher der AOK Hochrhein-Bodensee, mit: "Liposuktionsbehandlungen sind grundsätzlich keine Kassenleistung. Eine positive Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses – der festlegt, was Kassenleistung ist und was nicht – liegt nicht vor. Das Bundessozialgericht hat dies in einem höchstinstanzlichen Urteil bestätigt. An diese Rechtsprechung ist eine gesetzliche Krankenkasse gebunden."

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Auf die Frage, wie die AOK es begründet, dass sie dauerhaft die Kosten für Lymphdrainage und Strumpfhosen übernimmt statt einmalig die OP zu bezahlen, heißt es von der Krankenkasse: "Das Sozialgesetzbuch sieht einen derartigen Günstigkeitsvergleich nicht vor, und das geltende Recht lässt hier auch keine Ausnahmen zu." Alle weiteren Fragen – auch diejenige, warum Kerstin Studinger regelmäßig einen Nachweis erbringen muss, dass sie die Krankheit hat, obwohl diese außer durch eine OP nicht heilbar ist – "erübrigen sich", teilt Gerhard Gottwald knapp mit.

Ganz hat Kerstin Studinger die Hoffnung auf eine Operation nicht aufgegeben. "Wir schauen schon, dass wir sie irgendwann in Eigenleistung in Angriff nehmen", sagt Jan Studinger, der seiner Frau hilfreich zur Seite steht. "Wir sparen schon darauf, und waren sogar sehr sparsam bei unserer Hochzeit", fügt Kerstin Studinger hinzu. Neue Hoffnung schöpft das Paar nun durch einen aktuellen Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der sich dafür stark macht, dass die Krankenkassen künftig die Kosten für das Absaugen von Körperfett, wenn es sich nicht um einen kosmetischen Eingriff handelt, bezahlen.

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Lipödem: Vier Fragen und Antworten

  1. Was ist ein Lipödem? Lipödem ist eine krankhafte Fettverteilungsstörung an Armen und Beinen, die meistens bei Frauen auftritt. Dabei produziert das lipödematöse Fettgewebe an den betroffenen Extremitäten mehr Lymphflüssigkeit, als durch das Lymphsystem abtransportiert wird.
  2. Welche Therapien gibt es? Die konservative Therapie besteht aus dem Tragen von Kompressionsbekleidung und Lymphdrainage. Beides muss ein Leben lang von den Betroffenen diszipliniert angewandt werden und stellt eine starke Einschränkung der Lebensqualität dar. Durch die konservative Therapie wird das Lipödem allerdings nicht geheilt, sondern es werden lediglich die Beschwerden gelindert. Bei der operativen Therapie werden die krankhaften Fettzellen vollständig entfernt.
  3. Was kostet die operative Therapie? Eine komplette Entfernung des Lipödems an Armen und Beinen (Liposuktion) besteht aus drei Operationen (Beinaußen- und Innenseite und Arme) und kostet pro OP rund 4500 Euro, zuzüglich Narkose und Klinikaufenthalt.
  4. Wer übernimmt die Kosten? Die Krankenkassen übernehmen die Kosten in aller Regel nicht. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat im Januar 2018 die Eckpunkte für eine Studie zur Erprobung der Liposuktion (Fettabsaugung) bei Lipödem beschlossen. Mit der Studie soll die Frage beantwortet werden, welchen Nutzen die Liposuktion bei Lipödem im Vergleich zu einer konservativen, also nichtoperativen Behandlung hat. Zudem sollen in der Studie weitere Erkenntnisse zu den Risiken und möglichen Komplikationen der Methode gewonnen werden. (rop/jsc)