Es gibt Heiligsprechungen der katholischen Kirche, mit denen man einverstanden ist, es gibt aber Fälle, die nachdenklich stimmen. Dann gibt es Menschen, die ein heiligmäßiges Leben führen, aber keine Chance haben, heiliggesprochen zu werden – weil ihnen das notwendige Wunder fehlt. Schlimmer noch, sie werden einfach vergessen. Dazu zählt beispielsweise der Priester Josef Merk aus Seewangen – heute ein Ortsteil von Grafenhausen.
Früh Geschwister und Eltern verloren
Josef Merk wurde am 24. Juni 1890 als zweites von vier Kindern auf dem Bauernhof von Josef und Rosalia Merk geb. Metzler in Seewangen geboren. Der große Bruder fiel 1916 im Krieg, seine beiden Schwestern Rosa und Maria wurden später die Ehefrauen der beiden Brüder Johann und Wilhelm Kromer in Birkendorf beziehungsweise Seewangen, deren Nachfolgefamilien heute noch dort leben. Seine Mutter starb, als er sechs und sein Vater, als er zehn Jahre alt war.
Wenn er zu Fuß in die Schule nach Hürrlingen oder nach Riedern in die Kirche ging, merkte er damals schon, dass er es beim Laufen mit seinen Kameraden nicht aufnehmen konnte. Dafür war er diesen an Klugheit überlegen.
Das merkte auch sein Religionslehrer, der Vikar Albin Dietsche, der ihm einen Platz am Großherzoglichen Gymnasium zu Rastatt mit Unterbringung im Konvikt besorgte. Sein Abitur legte er 1908 als einer der Besten ab und begann in Freiburg Theologie zu studieren. Am 2. Juli 1913 wurde er in Freiburg zum Priester geweiht.
Ein Leben gezeichnet durch Krankheit
Bereits während seiner Vikarzeit machte sich seine Lungenkrankheit bemerkbar und im Sommer 1915 brach er erstmals in Karlsruhe zusammen. Nach einer Kur in der Ostschweiz musste er sein Vikariat in Vöhrenbach wieder abbrechen und landete im Krankenhaus in St. Blasien. Als nebenamtlicher Hausgeistlicher bekam er dort einen günstigen Tagessatz und kümmerte sich dafür nicht nur um das seelische, sondern auch um das irdische Wohlergehen der Kranken.
Als man ihn im Oktober 1918 zu einer Vertretung nach Hödingen am Bodensee schickte, landete er statt im dortigen Pfarrhaus mit 40 Grad Fieber im Krankenhaus in Überlingen. Die letzten 14 Jahre seines Lebens sollte Josef Merk dort verbleiben. Seine ständigen Fieber-, Schwäche- und Schmerzanfälle, die ihn immer wieder ins Bett zwangen, machten ein Leben ohne ständige ärztliche Betreuung unmöglich. Er musste erkennen, dass er nie mehr eine normale Pfarrstelle innehaben konnte.
Die Antwort des Priesters auf diese Erkenntnis war, sich seine eigenen „Pfarreien der besonderen Art“ aufzubauen. Pfarrei Nr. 1: Der Krankenhauspatient Merk wurde in Überlingen zum ehrenamtlichen Krankenhausseelsorger. Mit seinem immer sonnigen Gemüt und sprühenden Humor wurde er zum Seelenvertrauten vieler Patienten.
Hilfe dort, wo sie benötigt wird
Aber er kümmerte sich genauso um die irdischen Nöte der Kranken, wie das heute Sozialarbeitern obliegt. Seinen Ruf als Caritaspriester, als 15. Nothelfer, drang bald über das Krankenhaus hinaus und die Menschen kamen in Scharen in sein Krankenzimmer, um Hilfe zu erbitten oder seinen Rat einzuholen. Bis zu 70 Leute standen oft vor seinem Zimmer Schlange. Kein Mensch und kein Anliegen waren Josef Merk zu gering.
Seine zweite Pfarrei wurden die „Ruhrkinder“. Als die Franzosen im Januar 1923 wegen mangelnder Erfüllung der Reparationszahlungen das Ruhrgebiet militärisch besetzten, wuchs – bedingt durch den passiven Widerstand der Ruhrbevölkerung und die Hyperinflation – die bereits vorhandene Notlage ins Unerträgliche. Nach bischöflichen Schätzungen waren 35 Prozent der Kinder hochgradig unterernährt.
Von dem Schmiedemeister Kleinebrink aus dem Ruhrgebiet, den Josef Merk in St. Blasien als Lungenkranken kennengelernt hatte, erfuhr er von der gestiegenen Notlage. Und da hatte er eine Vision: Die verelendeten Ruhrkinder sollten für ein halbes Jahr oder mehr von Familien im Schwarzwald und am Bodensee aufgenommen werden, um dort an Leib und Seele wieder heil zu werden. Josef Merk, ein Krüppel an der Priesterfront, wie er sich selbst oft nannte, hatte seine priesterliche Sendung wiedergefunden.
Merk wird zum Ruhrkinderkaplan
Meister Kleinebrink gab er den Auftrag, im Ruhrgebiet bei ihm bekannten Priestern seine Idee vorzutragen, die davon gleich begeistert waren. Er aber machte sich daran, geeignete Familien für seine Pläne zu finden. Am 3. Juni 1923 startete an der Ruhr der erste Transport von Kindern im Alter von neun bis 14 Jahren nach Überlingen und bereits im Herbst erfolgte der zweite Transport.
Doch die minimale Vorbereitungszeit und die Null-Erfahrung in Sachen Kinderverschickung führten zu vielen Klagen und Enttäuschungen auf beiden Seiten. Vor allem passten oft die ausgesuchten Kinder nicht zu den ausgewählten Pflegeeltern. Josef Merk ging sofort daran, die Fehler zu beheben.
Beim Rücktransport im Herbst 1923 fuhr er mit an die Ruhr, um dort mit den maßgebenden Stellen grundlegende Richtlinien für weitere Transporte auszuarbeiten. Er selbst arbeitete sich mit Eifer in die vorhandenen Erfahrungen der Jugendfürsorge in Deutschland ein.

Unrealistische Erwartungshaltungen an der Ruhr mussten zurechtgerückt werden, denn manche dort glaubten, im Süden würden die „Ruhrkinder“ wie kleine Prinzen empfangen und verwöhnt werden. Genauso musste man aber auch die Pflegeeltern über den meist schwierigen familiären Hintergrund der fremden Kinder aufklären, damit diese nicht bei den ersten auftretenden Schwierigkeiten mit den Kindern resignierten.
Die gewissenhafte Auswahl von Kind und Pflegeeltern wurde so zum A und O der Arbeit. Als Pflegefamilien kamen alle mittelständisch geprägten Familien in Frage, aber am liebsten waren Merk bäuerliche Familien.
Dabei achtete er sehr darauf, dass dort die Kinder nicht als billige Knechte oder Mägde missbraucht wurden. Auf der anderen Seite war es für ihn selbstverständlich, dass die „Industriekinder“, wie man sie nannte, die gleichen kleinen Pflichten wie die Bauernkinder selbst auf dem Hof übernehmen mussten. Die Kinder sollten sich nicht nur gesundheitlich erholen, sie sollten zu lebenstüchtigen, möglichst christlich geprägten Menschen heranwachsen. Das war sein priesterliches Leitbild.
Josef Merk entwickelte sich zu einem perfekten Organisator, doch das reichte ihm nicht, er wollte den Kindern Lenker und Leiter in eine glückliche Zukunft werden. Er holte sie, wann immer es seine Gesundheit zuließ, im Entsendegebiet ab und versuchte gleich, ihre seelische Verfassung kennenzulernen. Manchem Jungen besorgte er eine Lehrstelle oder half auch mit, wenn ein Elternpaar ein Waisenkind adoptieren wollte.
Als 1933 der „Ruhrkinderkaplan“, wie man ihn überall nannte, seinen letzten Herzschlag tat, war gerade das zehnte Jahr seiner Kinderbetreuung angebrochen, mehr als 5000 Kindern hatten bis dahin davon profitiert. Am Bodensee und im Schwarzwald gab es fast kein Dorf, in dem nicht ein „Industriekind“ untergekommen war. Auch aus Birkendorf und Grafenhausen wird berichtet, dass von dort Ruhrkinder, versehen mit neuen Kleidern und mit Brot und Speck im Gepäck, verabschiedet wurden.
Das Begräbnis
Josef Merk starb am 23. Januar 1933 im Alter von 42 Jahren. Er hatte für sich im Testament ein Armenbegräbnis festgelegt. Als aber sein Sarg am 26. Januar aus dem St. Nikolaus-Münster zu Überlingen hinausgetragen wurde, da folgte dem Sarg eines Priesters eine große Zahl seiner Verehrer aus der Erzdiözese Freiburg und dem Ruhrgebiet. (Quelle: Peter Löhmann, Der Ruhrkinderkaplan, Verlag Herder 1935)
Der Autor: Josef Kaiser, pensionierter Studiendirektor, ist 1942 in Birkendorf geboren und ist dort Ortschronist.
Dieser Artikel wurde erstmals am 26. März 2023 veröffentlicht.