Als er wieder rausfuhr, aus der Ukraine, da tat es ihm leid. Leid, weil er gehen konnte. Ganz einfach die Grenze passieren, während so viele Männer in seinem Alter diese Möglichkeit nicht haben. Die Rede ist von dem Überlinger Michael Keimeyer. Wie es überhaupt dazu kam, dass er in die Ukraine fuhr, diese Geschichte muss von Anfang an erzählt werden.
„Jeder Mensch“, davon ist der 35-Jährige zutiefst überzeugt, „hat das Recht auf Glück. Und wir haben davon mehr, andere haben davon weniger.“ Mit „wir“ ist in diesem Fall die westliche Gesellschaft gemeint, mit „anderen“ Menschen die, die ihre Heimat verlassen mussten, weil sie Krieg oder Vertreibung dazu zwangen. Um diese Menschen hat sich Michael Keimeyer schon während der Flüchtlingswelle 2015 gekümmert, die Gruppe Refugees welcome Überlingen gegründet und so zumindest ein bisschen von seinem Glück weitergegeben.
Wer sich mit der Willkommenskultur in Überlingen befasst, der kennt seinen Namen längst, auch wenn Keimeyer bescheiden abwinkt. Er sei nicht wichtig, sagt er und es gebe viele, die sich ebenfalls engagiert um Flüchtlinge kümmerten. Soviel also zur Vorgeschichte. Und wer die kennt, der muss nicht lange nachdenken, um zu erahnen, was Michael Keimeyer in der Ukraine tat: Er fuhr dort hin, um Menschen rauszuholen.
Mit einem VW-Bus in die Ukraine
Mit einem VW-Bus voller Hilfsgüter, die er zuvor gesammelt hat, startet er am 12. März, einem Samstag, um 12.30 Uhr, nach der Arbeit in einem Konstanzer Handygeschäft. Er fährt die Nacht durch und kommt am nächsten Morgen um 4.30 Uhr an der polnischen Grenze an. Keimeyer ist müde und doch alles andere als das. Jeder mögliche Rest von Müdigkeit verfliegt ohnehin, als er ein merkwürdiges Wetterleuchten bemerkt. Wieder und wieder. Zehn, 20 Mal. Er ahnt, was es sein könnte. Glauben will er es nicht. Als er an der Grenze ankommt, ist die Ampel rot, die Schranke zu. Nur ein privates Auto steht vor ihm: Michael Keimeyer ist der zweite, der es nicht mehr hinüberschafft. Minuten zuvor wurde die Grenze geschlossen.
Bomben, so hört er, fallen auf Lwiw. Umkehren? „Ich bin doch nicht so weit gefahren, damit ich jetzt umdrehe“, sagt er sich, bemüht die Karte auf dem Handy und hat schnell den nächsten Grenzübergang gefunden, der ist 20 Kilometer entfernt und trägt den Namen Medyka. Eine ukrainische Krankenschwester, die ebenfalls nicht hinüberkommt, nimmt er mit. Ein Zimmer hat er bereits organisiert, mitten in Lwiw, die Hotels an der polnischen Grenze, von denen es, wie er sagt, wenige gebe, waren alle ausgebucht. Michael Keimeyer passiert also die Grenze – lässt insgesamt vier Kontrollen über sich ergehen. Und dann ist er mittendrin in diesem Land, in dem Krieg herrscht.

Wie ist es, in den Krieg zu fahren? In eine Stadt, die gerade noch bombardiert wurde? Fühlt es sich unwirklich an? Hat er Angst? „Ich habe mir in dem Moment gesagt: Wenn die Krankenschwester rüberfährt, kann ich es auch. Und irgendwie glaube ich da auch an Schicksal. Wenn es mich trifft, dann trifft es mich. Ich wusste aber auch, dass Lwiw bis dahin noch nicht bombardiert worden war und ging davon aus, dass sie keine zivilen Ziele angreifen.“
„Die kommen doch da niemals raus“
In Lwiw will er die 22-jährige Darya Taranik und ihre Mutter Elena treffen. Die kennt er seit zehn Jahren und Michael Keimeyer pflegt mit ihnen so etwas wie eine moderne Brieffreundschaft. Will heißen: Man chattet dann und wann. Als der Krieg ausbricht, intensiviert sich der Kontakt. Darya schickt Bilder und Videos aus Charkiw, wo sie mit der Mutter lebt, der Vater kämpft in Donezk. „Sie hat mir dann geschrieben, dass sie mit ihrer Mutter nach Lwiw flieht. Und ich habe die Bilder der vollen Züge gesehen und gedacht: Die kommen doch da niemals raus.“ Also bietet er an: Ich komme. Ich hole euch.
Doch Darya und ihre Mutter sind sich gar nicht sicher, ob sie das überhaupt wollen, raus aus der Ukraine. Einfach gehen? Und den Vater zurücklassen? „Sie waren unentschieden, aber ich bin trotzdem gefahren“, sagt er. „Mir war klar, wenn sie nicht mitkommen, gibt es da unzählige andere, die gerettet werden wollen.“ Unter anderem Ilona, die Mutter von Dana, der besten Freundin von Daria Manzherovska, die, selbst Ukrainerin, im Überlinger Badhotel arbeitet und auch Gründungsmitglied der Gruppe ÜB hilft ist.
80 Kilometer fährt Michael Keimeyer ins Landesinnere. Passiert Checkpoints, Straßensperren, an denen Männer mit Kalaschnikows sitzen. Sie kontrollieren, lassen ihn passieren. Englisch können sie nicht. In Lwiw trifft Michael Keimeyer einen Mann, von dem er nur den Vornamen kennt. Der heißt Serhii, ist in der Hilfsgruppe NGO Shelter Lwiw aktiv, zeigt Keimeyer die Wohnung, in der er untergebracht ist und wohin er die dringend benötigten Hilfsgüter bringen kann, die Keimeyer aus Deutschland mitgebracht hat: Im Kunstmuseum, dem Lwiw Art Palace, kommen etliche Spenden an und werden an die Menschen verteilt, die in der Schlange vor dem Gebäude warten. Rund 2000 sind es an diesem Tag, 500, so beobachtet Keimeyer, werden am Abend weggeschickt. Sie sind leer ausgegangen.

Das Heulen der Sirenen
Über allem: Das dauernde Heulen der Sirenen. Durchsagen durch die Lautsprecher, die an Laternen hängen. Michael Keimeyer versteht nicht, was gesagt wird, Serhii übersetzt. Man solle in den Keller gehen. „Aber die Straßen waren voller Leute, keiner ist in den Keller gegangen. Kinder haben gespielt, die Leute haben Kaffee getrunken. Das war total skurril.“ Ein Leben vor der Kulisse des Geheuls von Sirenen als eine Art Grundrauschen, das sich mit den Klängen der Straßenmusiker mischt, die nicht müde werden zu spielen, als wollten sie den Klängen der Gefahr und des Krieges die Macht der Musik entgegensetzen.

Also geht Michael Keimeyer auch nicht in den Keller. Stattdessen geht er ebenfalls Kaffee trinken. Mit Darya Taranik und ihrer Mutter. „Die Stadt war so voll wie die Überlinger Promenade an einem sonnigen Sonntag“, zieht Keimeyer einen Vergleich. „Denn die Menschen aus den umkämpften Gebieten sind ja in Scharen hierher geflohen, die Grenze ist nicht weit.“
Keimeyer bleibt zwei Nächte
Am Abend geht Michael Keimeyer in sein Appartement, mitten in der Stadt. Wieder heulen die Sirenen. Hat er nun Angst? „Nein“, sagt er. „Ich habe halt gedacht, dass es besser ist, mich vom Fenster fernzuhalten. Und dann habe ich ausgerechnet, dass die Gefahr, dass ich getroffen werde, sehr gering ist.“ Zwei Nächte bleibt er. Trifft sich noch einige Male mit Darya und ihrer Mutter, die ihm nach einer Weile mitteilen: Sie werden die Ukraine nicht verlassen. Sie wollen bleiben. Sie denken, es wird nicht mehr lange dauern. Sie wollen den Vater nicht im Stich lassen.
Nun sind zwei Plätze frei geworden, in dem Überlinger VW-Bus, der in die Freiheit fährt und in den Frieden. Serhii, der schon einer Mutter mit sechsjährigem Kind eine Mitfahrgelegenheit bei Keimeyer organisiert hat, kennt eine Frau mit einem dreijährigen Kind. Sie heißt Julia und kommt am nächsten Tag, als die Abfahrt bevorsteht, zum Treffpunkt.
Jetzt steht die Reisegruppe fest: Julia mit dem dreijährigen Kind will nach Dresden zu Verwandten. Ganz selbstverständlich fährt Keimeyer sie dort hin. Irina mit ihrem sechsjährigen Sohn nimmt er mit nach Überlingen, um ihnen bei sich und seiner Mutter Irene im Überlinger Ortsteil Bambergen seine Gastfreundschaft anzubieten. Auch Ilona, die Mutter der besten Freundin von Daria Manzherovska, fährt mit nach Überlingen. Und mit ihr reist ihr Hund.
Darya Taranik und ihre Mutter Elena aber bleiben zurück. Ob Michael Keimeyer enttäuscht ist, dass die beiden am Ende nicht mitkommen? Er schüttelt den Kopf. Lächelt. „Nein“, sagt er. „Das habe ich schon bei meiner Flüchtlingsarbeit mit den Syrern gelernt. Man kann nur die Hand reichen. Aber den letzten Schritt, den müssen die Menschen alleine gehen.“