Martin Walser ist nicht nur ein großer Schriftsteller. Er ist auch mit seinen 95 Jahren noch ein eigenwilliger Mensch. Zu seinem 90. Geburtstag musste ihn die Stadt im Kursaal in Abwesenheit des Protagonisten selbst feiern, da er einen anderen Termin wahrnahm. Jetzt – mehr als fünf Jahre später – war es ihm persönlich ganz wichtig, im Dorfgemeinschaftshaus seines Nußdorf noch einmal eine Lesung zu machen. Und die war im Nu ausgebucht, nachdem der Termin bekannt geworden war. Könnte es eine bessere Eröffnung der langen Nacht der Bücher geben, die schon am Vorabend begann?

Das könnte Sie auch interessieren

Und diese Eröffnung sollte mit mehr als 200 Zuhörern zugleich die bestbesuchte Veranstaltung sein. Schlange standen die Literatur- und Walserfreunde am Eingang und es musste noch nachgestuhlt werden. Schlange standen sie am Ende, um das neueste Buch mit Martin Walsers erinnerten Träumen signieren zu lassen, das mit Motiven der Berliner Künstlerin Cornelia Schleime illustriert ist.

Martin Walser liest im Video

Zuvor hatte Martin Walser selbst daraus gelesen. Zwar im Video von der Leinwand, doch mit der ihm nach wie vor eigenen Ausdruckskraft und Intensität. Oswald Burger hatte es mit Heiko Grebing einige Tage zuvor in Walsers heimischer Schreibstube am See aufgezeichnet. Der Schriftsteller selbst verfolgte es nun mit seiner Frau Käthe aus der ersten Reihe.

Großer Bahnhof für Martin Walser: Der Schriftsteller mit seiner Frau Käthe in der ersten Reihe. Daneben Anneliese Beck und Susanne Riester.
Großer Bahnhof für Martin Walser: Der Schriftsteller mit seiner Frau Käthe in der ersten Reihe. Daneben Anneliese Beck und Susanne Riester. | Bild: Hanspeter Walter

Auch die Lesung eines ehemaligen Nußdorfers, der zwar kein Schriftsteller, aber durchaus ein begabter Schreiber ist. Ernst Beck (88), der seit vielen Jahren in Billafingen zuhause ist, aber sich noch einmal auf Spurensuche in seiner alten Heimat begeben hat, las aus seinem Manuskript „Was von der Kindheit bleibt. Mein Nußdorf“. Als Walser diesen Text, der demnächst als Buch gedruckt erscheinen wird, zu Gesicht bekommen hatte, war er ebenso angetan wie Oswald Burger, der Moderator des Abends. „Wir beide fanden das toll. Da waren wir uns einig.“

Oswald Burger (links) moderierte den Abend, Ernst Beck las aus dem Manuskript seiner Spurensuche in der alten Nußdorfer Heimat.
Oswald Burger (links) moderierte den Abend, Ernst Beck las aus dem Manuskript seiner Spurensuche in der alten Nußdorfer Heimat. | Bild: Hanspeter Walter

Das Dorfgemeinschaftshaus war aus mehreren Gründen der ideale Ort für die Veranstaltung. Es ist nicht nur das Nußdorfer Zentrum. Denn just an diesem Standort hatte Ernst Beck einst auf dem elterlichen Hof gelebt, ehe er Mitte der 1960er Jahre zu seiner Frau Anneliese nach Billafingen zog. ­Als Martin Walser 1968 nach Nußdorf kam, war Ernst Beck schon weg. Dennoch sind sie sich ab und zu begegnet. Ja, häufiger brachte der Billafinger dem Schriftsteller einen bunten Blumenstrauß aus dem eigenen Bauerngarten vorbei. Bei einem der letzten Besuche war die Sprache auf Becks Erinnerungen gekommen.

Als „Grube der Glaubwürdigkeit“ bezeichnete Walser die Texte Becks in seiner aufgezeichneten Laudatio und ist begeistert von der Sprache und den ausdrucksstarken Begriffen, mit denen der unter anderem die „Hausmetzgete“ beschreibt. Seine Liebe zur Sprache unterstrich Ernst Beck, indem er sein eigenes Vorwort in einem „Nußdorfer Seealemannisch“ vortrug, um dann in das Schriftdeutsche zu wechseln.

Zuhörer halten den Atem an

Mit Detailtiefe und mit einem Augenzwinkern beschreibt er die Kindheitserlebnisse, an die er sich bei seiner Spurensuche in der alten Heimat erinnert: An die Bittprozession von 1945, bei der der kleine Ernst das Kreuz nach Seefelden trug. Dort wundert er sich, wie lange Menschen an einem Stück beten können. Den Atem halten die Zuhörer jetzt noch an, wenn Beck von den Munitionsfunden nach Kriegsende berichtet, die ihm und seinen Freunden genügend Material für Explosionsversuche und Feuerwerksexperimente boten, die bisweilen auf dem heimischen Herd für größere Katastrophen sorgten. Mit seinem Deutz-Traktor begibt er sich auf eine virtuelle Fahrt von der neuen Heimat zum Ort seiner Kindheit. Nicht ohne die Sorgen des Landwirts über die Versiegelung einst wertvollen Ackerlands zum Ausdruck zu bringen.

Das könnte Sie auch interessieren

Noch liegt Becks Buch nicht gedruckt vor, doch ist es beim Isele-Verlag bereits in Arbeit und verspricht nicht nur Nußdorfern eine bereichernde Lektüre. So wie die bemerkenswerten Träume, die Martin Walser aus bisher unveröffentlichten Tagebuchbänden in seinem neuen Buch ausbreitet und damit Einblicke in sein Seelenleben gibt. Wobei ihm jegliche Deutung von Träumen „abstrus“ und müßig erscheine, betont der Schriftsteller vorneweg: „Die Psychoanlayse ist mir völlig fremd“, sagt er: „Es gibt kein Unterbewusstsein.“ Je nachdem was einen gerade bewege werde geträumt – seien es „Herzschmerz, Magenverstimmungen oder Sexualbedürfnisse“. Je nach der körperlichen Befindlichkeit werde geträumt.

Schlange stehen mit Buch: Martin Walser schreibt für die Besucher persönliche Widmungen.
Schlange stehen mit Buch: Martin Walser schreibt für die Besucher persönliche Widmungen. | Bild: Hanspeter Walter

Träume von Maria Stuart und Jürgen Habermas

Martin Walser träumt von Maria Stuart oder Jürgen Habermas, mit dem er gemeinsam durch die Luft gen Himmel fliegt. „Habermas hat mehr Angst als ich“, erinnert er sich und am Ende landen sie wohlbehalten. „Wir umarmen einander.“ Auf einem Bahnhof begegnet er Maria Stuart, die ihm im Wege steht und verhindert, dass er seinen Zug erreicht. „Ich weiß, ich werde den Termin versäumen.“ Walser träumt von Literaturkritiker Joachim Kaiser, auf dessen Baumwollhose er eine Rezension seiner Novelle „Dorle und Wolf“ entdeckt. Und was er liest, beruhigt ihn: „Ich weiß, wenn er so kritisch anfängt, wird der Schluss positiv oder sehr positiv.“