Sie legten aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig ihr Amt nieder: Kristin Müller-Hausser und Dirk Diestel streben für sich selbst kein Amt mehr im Gemeinderat an. Das Aus für ihre Gruppierung, die BÜB+, sehen sie indes nicht gekommen. „Wir werden unsere Wunden lecken und zur nächsten Kommunalwahl wieder antreten“, sagte Dirk Diestel. Bestärkt fühlten sie sich durch die Äußerungen des Bedauerns, die sie nach ihrem Abschied aus dem Gemeinderat in großer Zahl erhalten hätten.

Ausbremsen lassen sie sich auch nicht von einem Brief, den Kristin Müller-Hausser im August dieses Jahres von einem Mitglied des Gemeinderats erhalten hat. Sie überlegten wochenlang, ob sie ihn öffentlich machen wollen. Darin wird sie aufgefordert, so wörtlich, „sich von Dirk Diestel und seinem einfältigen Auftraten zu distanzieren“.
Der Versuch, einen Keil zwischen sie zu treiben, sei offensichtlich. Bereits als ihr einstiger Fraktionskollege Roland Biniossek zur Partei „Die Basis“ überlief und damit die Fraktion der BÜB+ sprengte, gab es Angebote anderer Fraktionen an Müller-Hausser, zu ihnen zu wechseln. Diestel bekam solche Angebote nicht. Für sie beide sei aber immer klar gewesen, dass sie gemeinsam weitermachen. Das seien sie ihren Wählern schuldig.
Dirk Diestel als „selbstsüchtig“ beschimpft
Umso unverständlicher ist es für Müller-Hausser und Diestel, dass ein Mitglied des Gemeinderats es wagt, derart unverhohlen über Diestel herzuziehen, wohl meinend, dass Müller-Hausser dies mit sich alleine ausmache. In dem Brief wird sie bezichtigt, keine eigene Meinung zu vertreten, stattdessen würde sie „peinlich“ Diestel „hinterherdackeln“. Weiter schreibt das Ratsmitglied, dass Diestel ein „selbstsüchtiges, gar unredliches Auftreten“ an den Tag lege, „das können Sie doch nicht weiter decken, ohne dass Ihre Person weiteren Schaden nimmt“.

Der Brief trägt das Datum vom 12. August. Müller-Hausser überlegte lange, ob sie ihn öffentlich macht, und tat dies dann bewusst, ohne den Namen des Absenders zu nennen. Es geht ihr um die Sache, nicht darum, einen Absender bloßzustellen. In dem Brief steht, dass sie, Müller-Hausser, sich „zur Marionette dieser billigen Profilierungs-Sucht von Herrn Diestel“ gemacht habe. Er bezieht sich auf eine Ratssitzung am 27. Juli, die Müller-Hausser und Diestel aus Protest verließen, weil die BÜB+ hier nicht mit einem Sitz in einer beratenden Arbeitsgruppe bedacht worden ist.
Nächtliche SMS mit Vorwurf der „Nibelungentreue“
So denkt noch ein weiteres Ratsmitglied. Dieser wirft ihr in einer SMS vor, „nibelungentreu“, also bedingungslos, zu Diestel zu stehen. Sie beide hätten sich „inszeniert“, dienten aber nicht dem Wohl der Stadt, so der Vorwurf.
Zurück zu dem Brief, der das Datum vom 12. August trägt. In ihm wird Müller-Hausser von dem Ratsmitglied gefragt: „Warum trennen Sie sich nicht von ihm?“ Sie solle sich „fortan als unabhängige gewählte Rätin an den Tisch setzen“, dann, so die Formulierung, „würden Sie den Respekt des Gremiums zurückgewinnen“.
Bevor der Briefeschreiber „mit freundlichen Grüßen“ und dem Wunsch für „eine angenehme Sommerpause“ schließt, fordert er Müller-Hauser auf: „Lassen Sie sich das mal durch den Kopf gehen, alleine, nicht mit Herrn Diestel!“

Ihr ging einiges durch den Kopf, stellte Müller-Hausser klar. Vor allem bestärkte der Brief die 78-Jährige darin, nicht mehr weiter auf Kosten ihrer Gesundheit in diesem Gremium tätig sein zu wollen. Wie auch Diestel. Ihn belaste ein kardiologisches Problem. Jetzt könne er sich endlich einer wichtigen Operation widmen, die er aus Zeitmangel seit zwei Jahren vor sich hergeschoben habe.
Beim Austritt ein vergiftetes Klima attestiert
In der Oktobersitzung, ihrer letzten, erhoben sie Vorwürfe, dass im Gremium ein vergiftetes Klima herrsche und Oberbürgermeister Jan Zeitler als Sitzungsleiter nicht oder nicht früh genug zur Ordnung rufe. Jetzt, nachdem ihr Abschied ein paar Wochen zurückliegt, sagten Müller-Hausser und Diestel, dass der Brief und die nächtliche SMS nur die Spitze eines Eisbergs seien. Sie seien von ihren Ratskollegen regelrecht „geschnitten“ worden, weil sie offenbar als „Nestbeschmutzer“ gegolten hätten.
Wie sehen es andere Gemeinderäte?
Wir sprachen im Vertrauen mit einigen Gemeinderäten. Einerseits zeigten sie sich entsetzt darüber, dass einer aus ihrer Runde zu so einem Brief fähig ist. Andererseits betonten sie, dass man daraus nicht auf das Gesamtgremium schließen könne. Es wird anerkannt, dass Diestel und Müller-Hausser nie in verletzender oder persönlicher Weise gegen andere ausgeteilt hätten.
Indem sie sich zum Sprachrohr von Leuten in Überlingen gemacht hätten, die ihrerseits mit ehrverletzenden Mails einzelne Räte traktierten, hätten sie sich aber gemein gemacht mit deren Wortwahl. Als im Streit um die Sitze in Gemeinderatsausschüssen die BÜB+ gerichtliche Schritte gegen den gesamten Gemeinderat erwirkte, hätten sie das Klima im Rat vergiftet und letztlich damit bewirkt, dass die anderen Fraktionen nur noch enger zusammenrückten.

Wie bewertet OB Zeitler die Stimmung im Rat?
Oberbürgermeister Jan Zeitler hält die Sitzungskultur im Rat für „sach- und lösungsorientiert“. Mit Bezug auf den Austritt der beiden Räte fragten wir Zeitler, was Räte alles aushalten müssen, damit dieses Amt noch attraktiv bleibt (der besagte Brief war nicht Gegenstand unserer Anfrage an das Rathaus)?
„Ich warne davor, am subjektiv ausgebildeten Einzelfall allgemein auf eine nicht konstruktive Gemeinderatsarbeit in Überlingen zu schließen“, antwortete der OB. Er habe den Eindruck, „dass die gemeinsame und konstruktive Fortentwicklung unserer Stadt für alle als oberstes Ziel gesehen wird“. Gemeinsam dieses Ziel zu verfolgen, mache im kommunalpolitischen Diskurs viel Freude. Zeitler: „Eine parlamentarische Demokratie lebt vom Mitmachen, nicht von einer Formulierung vermeintlicher Rechtsansprüche – wer das beherzigt, wird in der kommunalen Gremienarbeit sichtbare und schöne Erfolgserlebnisse erfahren.“
Wann wird es Zeit, dass Zeitler ordnend eingreift?
Und worin sieht Zeitler seine Aufgabe als Sitzungsleiter, wann ist ein Punkt erreicht, wo es einzuschreiten gilt? Er nehme auf die Diskussion ordnend Einfluss, „immer dann, wenn sachfremde, ehrverletzende oder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widersprechende Äußerungen erfolgen“.
Er greife umgehend ein, wenn die Sitzungsordnung gefährdet ist, was durchaus herausfordernd sein könne. Zeitler schränkt ein: „Was ich sicher nicht leisten kann, ist, den einzelnen Zwischenruf antizipierend zu unterbinden – das gehört zur parlamentarischen Demokratie dazu, wie es ja auch die Protokollierung des Deutschen Bundestages als prominentes Beispiel zeigt.“