Michael Schnur MIchael.schnurr@suedkurier.de

Auf dem Rücken einer der vielen Aktenordner stand „Briefe 1945-1952“. Als die Überlingerin Gisela Kämper-Degen nach dem Tod ihrer Mutter deren schriftlichen Nachlass entsorgen wollte, stieß sie in den gesammelten Briefe ihrer Mutter nicht nur auf Einzelheiten ihrer Kindheit , sondern sie las auch die Liebesbriefe ihrer Mutter. Allerdings stammten die Handschriften nicht aus der Feder ihres Vaters Hans Kämper, vielmehr legte der gesammelte Briefwechsel Zeugnis ab von einer mehrjährigen außerehelichen Beziehung, die sie mit ihrem Geliebten Karl Lohmann geführt hatte. Ihre Mutter hatte diese Liebesbeziehung begonnen, als Gisela Kämper zwei Jahre alt und ihr Vater in Gefangenschaft und dann auf Arbeitssuche war. Nun, rund 70 Jahre später tauchte die pensionierte Lehrerin in die Geschichte ihrer Mutter und deren beiden Männer ein. Sie begann die Briefe zu lesen „zunächst mit Spannung und Neugier, dann mit schlechtem Gewissen“, sagt sie, „denn ich erhielt Einblick in die intimsten Gedanken meiner Mutter und meines späteren Stiefvaters. Ich fragte mich: Sollte ich das nicht ruhen lassen?“ Doch sie gelangte zu der Überzeugung, dass die Existenz des Ordners so zu verstehen war, sich mit den Briefen zu befassen. „Meine Mutter hat sie mir hinterlassen und nicht darauf geschrieben ‚nach meinem Tod vernichten‘, wie es auf einem Paket stand, das ich im Kamin fand“. Sie recherchierte weiter, tauschte sich mit Familienangehörigen aus, erhielt zusätzlich noch Briefe ihres Vaters Hans und ihrer Großmutter an ihre Mutter und fasste alles in einem Buch zusammen, das sie bei Books on Demand publizierte. Es heißt „Ruthchen. Eine Familiengeschichte in Briefen“ (ISBN 9 783750 413009).

Das Cover des Buches von Gisela Kämper-Degen, das die Überlingerin jetzt veröffentlicht hat.
Das Cover des Buches von Gisela Kämper-Degen, das die Überlingerin jetzt veröffentlicht hat. | Bild: Michael Schnurr

Das Buch ist weit mehr als die private Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte. In diesen Briefen begegnet dem Leser ein Stück vielschichtige Zeitgeschichte. Gisela Kämper-Degen wollte das Briefkonvolut zunächst nur sichern, gab es dann der jüngeren Generation zu lesen und wurde darin bestärkt, es für eine größere Öffentlichkeit lesbar zu machen. „Dieser Briefwechsel ist ein Rohdiamant. Durch die authentischen Briefe wird der Zeitgeist anschaulich, der Leser erfährt, wie sich diese Frau mit drei Kindern nach dem Krieg durchschlägt, wie die damalige Rolle von Frauen, Männern und Kindern war und wie es ihnen in der Hungerzeit nach dem 2. Weltkrieg ergangen ist“, lautete deren Urteil.

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Eine erheiternde Episode hebt Gisela Kämper-Degen hervor: Karl macht einen „Gelegenheitskauf“ und ersteht günstig moderne Küchenschränke. Er will sie erst einmal nach Bonn liefern lassen. Ruth freut sich über die Anschaffung von Küchenmöbeln, sie sind ein Hinweis auf eine gemeinsame Zukunft. Monate dauert es, bis die Küchenmöbel dann endlich in die dunkle, enge Wohnung ins oberbayrische Marquartstein geliefert werden, wohin Ruth die Flucht aus der Tschechoslowakei geführt hatte. Lange übernehmen die Möbel in den Briefen eine Art Nebenhandlung. Bedrückende Themen – „wie sagen wir den Kindern, dass wir uns scheiden lassen?“, „wohin mit den Kindern?“ – wechseln sich unvermittelt mit Informationen über die Möbel ab und liefern ungewollt eine unterhaltsame Note, zumal sich die Möbel schließlich als überteuerte, unbrauchbare Schränke aus Presspappe erweisen. Gisela Kämper-Degen: „In gewisser Weise ist die Geschichte der Möbel ein Gleichnis für die Beziehung der Liebenden. Sie ersehnen jahrelang einen gemeinsamen Neubeginn, aber ihre Lebenswirklichkeit ist eine andere.“

Inhalt weißt über das Familiäre hinaus

Eine Gesellschaft im Nachkriegstaumel, in der sich Beziehungen neu ordnen, in der Kinder verschoben werden und vieles mehr. Auch davon erzählen die Briefen. Ein Inhalt, der über das Familiäre hinaus weist. Die Schilderung der Lebensumstände im Nachkriegsdeutschland macht das Buch für eine größere Leserschaft interessant.

Nur am Rand wird erwähnt, dass der Stiefvater Karl Lohmann als rechte Hand des NS-Juristen Carl Schmitt im 3. Reich Karriere machte. Nach dem Krieg suchte er Arbeit als Journalist, und wurde schließlich der persönliche Referent des damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmeier. Das jedoch liegt zeitlich nach dem Briefwechsel.