Was hat Sie vor 41 Jahren dazu bewogen, Pfarrerin zu werden?
Ich wollte schon mit 13 Jahren Pfarrerin werden. Ich war ein total frommes Kind und tief gläubig. Doch hat mich dann der Konfirmandenunterricht total abgeschreckt und ich habe in den folgenden Teenagerjahren noch meine atheistische Phase durchlaufen. Später hat mir der Glauben in einer schwierigen Lebensphase jedoch entscheidend geholfen und so kam es doch zum Theologiestudium. Im Laufe meiner Berufsjahre habe ich dann auch eine Meditationsausbildung absolviert und meine Spiritualität ist weiter gereift. Aus dieser Lebenserfahrung konnte ich immer wieder viel schöpfen.
Würden Sie sich heute anders entscheiden? Hatte es damals Alternativen gegeben?
Ich würde es aus heutiger Sicht genau gleich machen. Der Kern des Berufs und der Arbeit sind für mich der Glaube und die Seelsorge. Damals hätte ich auch gerne Psychologie studiert, doch dazu reichte mein Abiturzeugnis nicht ganz. Mit Menschen zu arbeiten und Menschen zu trösten, war mir von Kindesbeinen an ein wichtiges Anliegen. Auch ich selbst habe oft Trost im Glauben gefunden. Wobei ich heute dafür kämpfen würde, dass die Bürokratie stärker ausgelagert wird.
Was hat Freude gemacht an dem Beruf? Was waren die größten Belastungen?
Die Verwaltungsarbeit war immer die größte Belastung. Der Umgang mit Menschen ist es, den ich besonders geliebt habe und noch immer liebe. Auch die sogenannten Kasualien wie Taufen, Trauungen und Beerdigungen waren mir sehr wichtig. Auch die geistige Begleitung von Menschen mit Bezug auf die Bibel und den Glauben. Mein Herz steckte insbesondere in der Arbeit mit Menschen, die nach außen nicht darstellbar ist. Es gab immer wieder Menschen, denen ich als Seelsorgerin empfohlen worden bin. Ich habe Eheberatungen und Sterbebegleitungen gemacht. Auch Lebensberatung bei Problemen in Arbeitssituationen gehörte immer wieder dazu.
Was hat sich verändert seit dem ersten Dienstantritt?
Damals gab es noch ein grünes Wählscheibentelefon und Hängeregistraturen – heute hat natürlich auch hier die Digitalisierung schon lange Einzug gehalten. Doch das sind nur äußere Zeichen. Innen hat dies eine Zunahme von Perfektion bedeutet. Früher waren Aushänge liebevoll geklebt – heute muss alles digital gedruckt und auf dem neuesten Stand sein. So hat mein Mann mehrere Jahre lang bis heute ehrenamtlich die Homepage der Kirchengemeinde aktualisiert.
Der Umgang unter den Kollegen ist viel entspannter und lockerer geworden. Das Steife von früher ist verschwunden – alle sind per Du. Auf der anderen Seite hat der Erwartungsdruck von außen gegenüber Pfarrerinnen und Pfarrern zu genommen, dadurch können die Binnenkontakte weniger gepflegt werden.
Kirchen tun sich heute schwer, die Zahl der Mitglieder schwindet. Was müssten sie anders oder besser machen? Macht Ihnen die Entwicklung Sorge?
Nein, große Sorgen mache mir überhaupt nicht. Das wird seinen Weg gehen mit Gott. Um die Menschen zu gewinnen und zu binden, müssen sie etwas Positives erfahren haben. Gemäß der Formulierung von Karl Rahner: „Der Fromme der Zukunft wird ein ‚Mystiker’ sein, einer, der etwas ‚erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein.“
Die Austritte dokumentieren, dass diese Menschen mit dem Glauben nichts mehr erleben und nichts mehr von ihm erwarten. Kirche müsste den Menschen stärker zeigen, was sie dadurch verlieren. Denn dies geht mit einem Verlust an Wertebindung einher, vieles wird zunehmend unverbindlicher.

Gab es auch erfreuliche Entwicklungen in den vergangenen Jahren?
Positiv an den jüngsten Entwicklungen sind für mich insbesondere die Abnahme des religiösen Fundamentalismus' und die Offenheit für andere Formen der Glaubensausübung. Die Toleranz ist hier ein großes Stück weit gewachsen. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass die Zahl der Frauen im Pfarrberuf stark zugenommen hat. Bei meinem Start in Owingen vor 33 Jahren war ich fast die einzige. Das zeigt sich jedoch bei der Landeskirche auch in der Öffnung für eine Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.
Sichtbare Zeichen bei uns sind zum Beispiel große Open-Air-Gottesdienste – wie der ökumenische Gottesdienst am Pfingstmontag im Bad- oder Kurgarten – oder der Taufgottesdienst am See, der seit einigen Jahren viele Menschen anspricht. Natürlich spiegelt auch die Abkehr von einem lange Zeit männlich dominierten Beruf eine Öffnung zur Welt wider. Auch Bestattungen im Friedwald sind inzwischen in der evangelischen Kirche möglich, ja fast selbstverständlich geworden.
Was erscheint Ihnen aus heutiger Sicht besonders wichtig für die Zukunft?
Durch eine nachlassende Bindungskraft von Menschen an christliche Werte können Einfallstore für politischen Fundamentalismus entstehen. Das ist derzeit in ganz Europa eine bereits zu beobachtende und wachsende Gefahr. Lange Zeit waren Bildung und Glaube sowie eine entsprechende Erinnerungskultur ein wirksamer Schutz dagegen.
Kernaufgabe ist es aus meiner Sicht, die Liebe zu den Menschen zu pflegen und stärken. Womit schon Jesus seine Nachfolger geworben und für sich eingenommen hat. Nicht mit Gesetz und Strafe, sondern mit Liebe.

Rückblickend bin ich sehr, sehr dankbar für das mir entgegengebrachte Vertrauen, für die Freude des Entdeckens so vieler wunderbarer Menschen. Ich fand es toll, immer wieder neue Menschen verschiedener Generationen kennenzulernen. Wo wäre ich geblieben ohne meine Schüler, die mir Pädagogik beigebracht haben. Krisen sind für mich nicht nur Leid, sondern zugleich Wachstumsfugen, die zwar schmerzen können, einen aber auch voranbringen.
Zur Person
Silvia Johannes kam 1954 in Buenos Aires zur Welt und lebte dort noch drei Jahre mit ihren Eltern, ehe die Familie nach Deutschland kam. Sie wuchs in Bruchsal auf. Von 1977 bis 1982 studierte sie in Heidelberg Theologie. 1983 wurde sie Lehrvikarin in Karlsruhe-Durlach und 1984 ordiniert. Pfarrvikarin – heute heißt es Pfarrerin im Probedienst – war sie 1985 zunächst in Mannheim, dann in Owingen. Für die zweite Stelle konnte sie sich entscheiden zwischen Karlsruhe und Bodensee, wo die Badische Landeskirche einen Pfarrer "mit Pioniergeist" suchte. Denn Owingen war 1985 die letzte neu gegründete Gemeinde. Die halbe Stelle wurde durch ein halbes Deputat in der Krankenhausseelsorge ergänzt.
Für ihre beiden Kinder Dominik (geboren 1988) und Ann-Kathrin (1990) verlegte sich Silvia Johannes ab 1992 ganz auf den Schuldienst am Gymnasium Überlingen, wo sie bis 2012 Religion unterrichtete. Von 2005 bis 2015 teilte sie sich mit Pfarrerin Anja Kunkel eine Pfarrstelle in Meersburg, ehe sie ganz nach Überlingen kam.
Neben ihren Hauptaufgaben absolvierte Johannes eine Ausbildung in Geistlicher Begleitung bei der Erzdiözese Freiburg und eine Fortbildung zur Fachberaterin in Psychotraumatologie.
Mit 64 Jahren geht Silvia Johannes jetzt in den Ruhestand, aus gesundheitlichen Gründen etwas früher als ursprünglich geplant. Offiziell verabschiedet wird sie am Sonntag, 11. November um 15 Uhr mit einem Gottesdienst in der Auferstehungskirche in Überlingen. Den Termin am Martinstag hat sie bewusst gewählt, wie sie sagt: "Einmal ist es der Tauftag von Martin Luther und zum anderen der Gedenktag des Bischofs Martin von Tours." Wie und wann die Lücke geschlossen wird, die Silvia Johannes hinterlässt, ist noch nicht klar.