Karina M. hat aufgegeben. Sie verzweifelt am Rechtsstaat. 31 Jahre lang wurde sie von ihren Eltern gefangen gehalten und sexuell missbraucht. Neun Jahre war sie alt, als sich der eigene Vater das erste Mal an ihr verging. Sechs Kinder zeugte er mit ihr. Dann konnte sie sich befreien, ging vor Gericht. Doch das Landgericht Rottweil sprach den Vater 2006 frei. Nun hat sie erneut geklagt. Im Namen ihres 15-jährigen Sohnes R. wollte sie Ansprüche nach dem „Opferentschädigungsgesetz“ (OEG) geltend machen. Ende Januar verwarf das Sozialgericht Konstanz auch diese Klage.
Wieder bekam Karina M. nicht Recht. Aus demselben Grund wie 2006: Es könne nicht nachgewiesen werden, dass es sich bei den Geschlechtsakten zwischen Vater und Tochter im nicht verjährten Zeitraum noch um Vergewaltigungen handelte. Möglicherweise habe Karina M. sich irgendwann nicht mehr deutlich genug zur Wehr gesetzt, heißt es sinngemäß im ersten Urteil des Landgerichts Rottweil, das den Vater deswegen frei sprach. Zu einer Revisionsverhandlung war es damals nicht mehr gekommen, weil der Angeklagte in der Untersuchungshaft starb. In seinem jetzigen Urteil begründete das Sozialgericht Konstanz die Klageabweisung auch wieder damit, es sei nicht nachzuweisen, dass es sich bei dem inzestuösen Missbrauch, bei dem R. gezeugt wurde, um Vergewaltigung gehandelt habe. Für Karina M. ist diese Auffassung der Gerichte unverständlich. Sie habe sich bis zuletzt gewehrt, sagt sie. Und selbst wenn ihre Abwehr schwächer geworden wäre, im Laufe von 31 Jahren der Gefangenschaft, nach Folter, nach Drohungen gegen Leib und Leben – rechtfertigt das dann einen Freispruch des Täters? Nein, findet Christian Sellerbeck, Rechtsanwalt aus Owingen und Karina M.'s juristischer Vertreter, der sagt: „So etwas habe ich noch nie erlebt. Was da gelaufen ist, ist wirklich unglaublich.“ Und auch Karina M. wollte sich damit nicht abfinden. Wenn schon nicht sie selbst, so sollten doch wenigstens die Kinder Gerechtigkeit erfahren. Das Landratsamt Bodenseekreis erkannte das auch teilweise an: Die Familie erhält Opferentschädigung. Für den jüngsten Sohn, den 15-jährigen R. begehrte Karina M. nun aber die Feststellung, seine Zeugung sei Folge einer Gewalttat im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes. Damit würde ihm, der aufgrund der Verhältnisse und möglicherweise auch wegen des Inzests geistig beeinträchtigt ist, eine Rente zustehen. Diesen Antrag lehnte das Landratsamt Bodenseekreis ab. Dem SÜDKURIER erklärte es das damit, „weil nicht zweifelsfrei klar war und ist, dass eine Gewalttat im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) gegeben ist.“ Man müsse sich streng an das geltende Recht halten. Den zuständigen Mitarbeitern sei es aber „wirklich nicht leicht gefallen, solch einen Bescheid an die betroffene Familie zu versenden.“
Karina M. klagte dagegen vor dem Sozialgericht Konstanz – erfolglos. Auf Nachfrage des SÜDKURIER gab das Sozialgericht eine Pressemitteilung heraus, in der es heißt: „Die Zeugung in einer inzestuösen Beziehung kann nur dann als Gewalttat im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes anerkannt werden, wenn die Gewalttat zumindest glaubhaft gemacht worden ist.“ Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Karina M. die Vergewaltigung durch ihren Vater aus Sicht des Sozialgerichts nicht „zumindest glaubhaft“ machen konnte. Wie kann das sein? Schließlich ist unbestritten, was auch in der Presseerklärung zu lesen ist: Dass sie im Alter von neun Jahren von ihrem Vater erstmals sexuell missbraucht wurde. Dass er sechs Kinder mit ihr zeugte. Dass die Familienverhältnisse „von Gewalt und massiven Drohungen gegen Leib und Leben geprägt“ waren. Dass der Vater auch seine Enkelkinder, die zugleich seine Kinder waren, bedrohte und misshandelte. In der Pressemitteilung steht auch, dass bei Sohn R. gutachterlich Störungen festgestellt worden seien. Trotz all dieser Erkenntnisse, habe das Gericht aber „nicht sicher feststellen“ können, „dass auch der Geschlechtsakt, in dem der Kläger gezeugt worden ist, durch eine Gewalttat im Sinne des § 1 OEG erfolgte.“
Das Sozialgericht bezieht sich hier auch auf das Rottweiler Urteil. „Schon das Strafgericht war zu der Einschätzung gelangt, es könne nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die einmal angewandte Gewalt automatisch bei allen späteren sexuellen Missbräuchen und so auch bei dem konkreten Geschlechtsakt, bei dem der Kläger gezeugt worden ist, fortwirkte.“ Wenn schon nicht wegen der Vergewaltigung, hätte dem Sohn die Rente dann nicht wegen Inzest zugestanden? Inzest, erklärt der Pressesprecher des Sozialgerichts, Richter Steffen Roller, sei zwar strafbar, führe aber nicht zwingend dazu, dass das dabei gezeugte Kind Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz habe. Dass der Rechtsstaat Karina M. allein gelassen habe, könne man dennoch nicht sagen: „Der Sozialstaat hat sich sehr bemüht um die Familie, sie bekommen zahlreiche Leistungen.“ Und ein Richter dürfe nicht über die Grenzen des Gesetzes gehen. Sind diese dann vielleicht zu eng gesteckt? Dazu könne er nichts sagen, erklärt Roller. Was er aber sagen kann: „Dass einen Richter ein solcher Fall nicht kalt lässt. Den nimmt man mit nach Hause.“
Für Karina M. reicht das aber nicht aus. Das Sozialgericht führt Zeugenaussagen an, nach denen es sich zwischen ihrem Vater und ihr um ein eheähnliches Verhältnis gehandelt haben soll. Karina M. verweist auf die Folter und die Drohungen. Besonders, wenn er drohte, den Kindern etwas anzutun, habe sie das dazu gebracht, zu tun was er wollte: leben wie seine Frau. Dass er im Zweifel Ernst machte, beweise auch eine Schnittverletzung an der Wange eines Sohnes, die bei der Verhandlung 2006 noch zu sehen gewesen sei und die Wilhelm M. seinem Sohn und Enkel zugefügt habe, weil sie nicht getan habe, was er wollte.
Drohungen wie diese tragen nach Aussagen von Veronika Wäscher-Göggerle, Frauenbeauftragte des Bodenseekreises, dazu bei, dass Frauen ihre Vergewaltiger nicht anzeigen und dass so wenig Vergewaltigungen zur Anklage kommen: „Etwa 8000 Vergewaltigungen werden jährlich in Deutschland angezeigt, doch das ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Laut einer Studie vom Familienministerium entscheiden sich nur fünf Prozent aller Betroffenen zu einer Anzeige. Die Dunkelziffer ist somit extrem hoch: Bei 8000 Anzeigen wären es 160 000 Vergewaltigungen jährlich“, rechnet sie vor. Pro Jahr würden aber nur etwa 1000 Täter wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung verurteilt.
Karina M. wundert das nicht: „Wenn man dann vor Gericht zieht und das ist schwer, all den Dreck öffentlich zu machen, da schämt man sich auch, dann bekommen die Vergewaltiger ja ohnehin Recht. Denn wie soll eine Frau schon beweisen, dass sie sich gewehrt hat?“
Leben wollte Karina M. nicht mehr, als das Urteil kam. Nach dem ersten und nach dem zweiten Richterspruch trieben sie Suizidgedanken um. Doch jedes Mal, wenn sie auf der Brücke stand, entschied sie sich wieder für das Leben. Das Leben mit ihren Kindern, die sie brauchen. Sechs junge Menschen, die schwer verstört sind, die ohne sie im Alltag nicht zurecht kommen. Karina M. lebt für sie eine Normalität, mitten im glückseligen Überlingen, sorgt dafür, dass sie sich gesund ernähren und wenn sie krank sind, sitzt sie an ihrem Bett. Tut alles, was eine Mutter tun würde. Und die große Schwester, die sie gleichzeitig ist, vielleicht auch. Ihre Kinder werden nie selbstständig werden. Sie werden sie brauchen. Ihr Leben lang. Und deshalb bleibt Karina M. eben in diesem Leben. In dem sich ihr Traum von Gerechtigkeit aber wohl nicht mehr erfüllen wird. „Dass die Bundesregierung nun eine Verschärfung des Sexualstrafrechts auf den Weg bringt, wird ihr nicht mehr helfen“, bedauert ihr Anwalt Sellbeck. „Das Urteil ist rechtskräftig.“