Als Russland am 24. Februar die Ukraine angreift, sind in der Schule Schloss Salem gerade Ferien. Die 16-jährige Schülerin Mariia Konycheva, die aus der Ukraine stammt, macht mit ihren Eltern Urlaub in Österreich, als sie die Nachricht vom Ausbruch des Kriegs erreicht. Der Vater fährt an die Grenze, um eine der beiden Großmütter abzuholen. Die andere kann das Land nicht verlassen, zu alt ist sie, nicht einmal den Luftschutzkeller kann die Gehbehinderte bei Bombenalarm erreichen.
Krieg verändert Beziehung zwischen Schülern nicht
Mariia kehrt nach Salem zurück. In den Schoß der Schule. Es hilft ihr, ins vertraute Umfeld zu kommen. Sie besucht das Internat seit vier Jahren und in dieser Zeit ist es ihr lang schon Heimat geworden. Nach der Rückkehr begrüßt Mariia auch ihre russischen Freunde herzlich und diese Herzlichkeit bleibt: „Unsere Beziehung zueinander hat sich nicht verändert. Wir unterstützen uns nach wie vor und sind für die anderen da“, sagt sie. „Die meisten Schüler hier sind sehr offen. Wir waren vorher befreundet, warum sollten wir es jetzt nicht mehr sein? Das sind die Regime, die sich streiten. Wir können nichts dafür und wir können nichts daran ändern. Wir sind doch nur Schüler.“
Zwei russische Schüler kehren nach den Ferien nicht zurück
33 russische und 13 ukrainische Schüler besuchen die Schule Schloss Salem, über befreundete Familien hat das Internat nach Kriegsausbruch auch ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Andere jedoch, zwei russische Schüler, kehren nicht zurück, keiner weiß, was aus ihnen wurde. Zum Start nach den Ferien fehlten noch mehr als nur zwei Schüler: „Die ukrainischen Schüler kamen nicht so schnell aus dem Land raus, die russischen ebenso“, sagt Geschäftsführerin Brigitte Mergenthaler-Walter.
Die Schule verurteilt den Krieg klar
Wie ihre Kollegen steht sie vor einer großen Herausforderung. Die Pädagogen müssen die Schüler auffangen, die aus 44 Nationen kommen und den Krieg alle aus einer anderen Perspektive empfinden und erleben. Sie müssen ihnen helfen, mit der Situation umzugehen. Eine große Schulveranstaltung fand am Tag nach den Fastnachtsferien statt, in der Mergenthaler-Walter auch die Position der Schule verdeutlichte, die den Krieg klar verurteilt. Es folgten ein Friedensgebet und eine Gedenkminute.
Lehrer und Psychologen schauen genau hin
Kippt die Stimmung gegen die russischen Schüler? Sind auch sie Anfeindungen ausgesetzt, wie sie zahlreiche Russen nach Kriegsausbruch erleben müssen? Das Lehrerkollegium und das Psychologenteam sind wachsam, schauen sehr genau hin. Es gilt zu unterscheiden: Sind das die normalen jugendlichen Konflikte oder ist es mehr? „Wir haben die Antennen extrem ausgefahren, aber zum Glück war da nichts“, sagt Gesa Meyer-Wiefhausen, die Leiterin der Stabsabteilungen. Und Mergenthaler-Walter ergänzt: „Wir haben den Schülern gesagt, dass sie vorsichtig miteinander sein sollen, aufeinander achten. Sich umeinander kümmern. Das ist die Aufgabe einer Gemeinschaft.“

Am Abend nach der Schulveranstaltung wurde der Krieg in den einzelnen Flügeln, in denen die internen Schüler wohnen, thematisiert, und dann die Woche über im Unterricht. Die Schüler stellten ein riesiges Peace-Zeichen auf, ein Reporter der Deutschen Welle, der in der Ukraine vor Ort war, kam und berichtete. Einen Monat nach Kriegsbeginn reiste der ehemalige Bundespräsident Johannes Gauck an, für einen Projekttag Demokratie in den Klassen 5 bis 10.
16-Jährige hat sich aus sozialen Medien zurückgezogen
Mariia und ihre Mitschüler versuchen, einen normalen Alltag zu leben, nicht ständig an den Krieg zu denken, nicht ständig davon zu sprechen. „Damit schwächt man sich nur selbst“, sagt die 16-Jährige. Social Media hat sie schon längst abgeschaltet. Wobei der Krieg in diesem Alltag schon eine Rolle spielt. Aber Schule und Schüler versuchen, sofern das überhaupt möglich ist, eher eine positive Energie hineinzulegen. Zum Beispiel, indem sie Spendenläufe organisieren. „Wir machen das zusammen, Russen und Ukrainer“, betont Mariia. „Das Gefühl, dass wir beide versuchen, etwas Gutes zu tun, hilft uns. Davor waren wir schon Freunde. Aber jetzt sind wir noch ein bisschen mehr zusammengewachsen.“
Nicht ständig an den Krieg denken, nicht ununterbrochen die Nachrichten verfolgen: „Das sind Überlebensstrategien, die man benötigt“, sagt die Geschäftsführerin. Diese Strategien entwickle man zum Teil selbst, aber das sei auch das, wozu Psychologen raten. „Denn man muss, um eine gesunde Seele zu erhalten, auch den Frühlingstag genießen und die Freude, ansonsten kann ein Mensch diese seelischen Lasten nicht tragen. Es ist wichtig, dass sich unsere Schüler in diesen Schutzraum begeben können.“
Schule als zweite Heimat wichtig, wenn die erste Heimat wankt
So wird Salem als Schutzraum und zweite Heimat für die Schüler umso wichtiger, wenn die erste Heimat wankt. Mariia erwähnt auch die Lehrer und Mentoren, die sie seit vielen Jahren begleiten, die ihr Halt geben. Hinzukommen ihre Freunde, Psychologen und Seelsorger, die für sie da sind. Doch auch ihre Eltern, die bei einer befreundeten ukrainischen Familie im spanischen Alicante untergekommen sind, sind für sie da. Mit ihnen telefoniert sie viel, teilt die Sorge um Großmutter in Kiew.
Wir nehmen die Ukraine in unserem Herzen mit, egal wo auf der Welt wir auch sind.“Mariia Konycheva
Salem ist ein stückweit Heimat für Mariia, die zweite Heimat. Aber die echte Heimat, die erste, die sei in Kiew, sagt Mariia – in der Stadt, wo sie nicht hin kann und die sie daher umso mehr vermisst. Der Ort, an dem sie sich am wohlsten und am sichersten fühlt, auch wenn sie natürlich weiß, dass es dort im Moment alles andere als sicher ist. „Die Ukraine wird meine Heimat bleiben“, sagt Mariia. „Kiew wird meine Heimat bleiben und selbst wenn es total zerstört ist, werden wir dennoch Ukrainer blieben. Wir nehmen die Ukraine in unserem Herzen mit, egal wo auf der Welt wir auch sind.“