„Sprache ist eine Wanderdüne“, stellt Jochen Kelter in seinem Essay „Verortung“ fest. Und dieser poetische Satz ist auch der Titel seines neuen Essaybands, den Kelter beim literarischen Jour Fixe in der Meersburg vorstellt. Wobei „neu“ nur auf die Herausgabe als Sammlung zutrifft: Die acht darin enthaltenen Essays sind zwischen 2005 und 2018 bereits in anderen Publikationen erschienen.
In „Verortung“ beschreibt Kelter seine hybride Biografie, die sich in Deutschland, Frankreich und der Schweiz abspielt. „Und ich bin, schon von Berufs wegen, in Sprache daheim, in hybrider Sprache“, die sich eben als Wanderdüne immer wieder neu verschiebt. „Und ich bewege mich in diesen Dünen aus verschiedenen Sprachen und Bewegungen.“
Konsum und Konformismus
Doch mit der Sprache, und mehr noch als sie, wandelt sich ihr Umfeld, bemerkt Kelter: sowohl in Paris, das sich in ein Museum verwandle, als auch in der Schweiz, wo die „Kultur der Agglo“ herrsche, des „Siedlungsbreis“. Die Schuld daran gibt der unermüdliche Kapitalismuskritiker Kelter Konsum und Konformismus, die auch in der Kunst herrschten, und die ihn heimatlos gemacht hätten.
In „Verortung“ warnt Kelter auch davor, „dass wir unsere Biografien nicht zu früh als abgeschlossen betrachten“, da sich der Lebenslauf ja noch ändere. Auf den Konstanzer Romanisten Hans Robert Jauss, dessen Mitgliedschaft in der Waffen-SS erst vor einigen Jahren durch eine neue Studie in die Öffentlichkeit drang, obwohl man darüber bereits in den 1980er Jahren an der Uni hinter vorgehaltener Hand sprach, scheint das sogar posthum zuzutreffen.
„Ein Lebenslauf als Provokation“
„Ein Lebenslauf als Provokation“ überschreibt Kelter sein Essay über seinen ehemaligen Lehrer Jauss, mit dem ihn bis zu dessen Tod ein enges Verhältnis verband. Vielleicht deshalb bleibt Kelters Einordnung von Jauss‘ Biografie seltsam diffus. „Die Vita des Hans Robert Jauss ist weder mit sich noch mit seinem Werk in Deckung zu bringen“, meint Kelter. Seine Generation müsse es aushalten, fast ihr Leben lang überall von alten Nazis umgeben gewesen zu sein.
Fragwürdig wirkt allerdings Kelters Fazit: „Und es machte auch keinen Unterschied, wenn wir ihnen die Spuren ihrer vergangenen Überzeugungen und Taten in ihrem zweiten Leben endlich nachweisen könnten. Weder sie noch wir wären auf diese Weise geheilt.“ Heilung, weder der einen noch der anderen, dürfte nicht das Thema sein.
„Ich versuchte, einen dritten Weg zu gehen“
Sondern vielmehr der Umgang mit der Erkenntnis, dass der verehrte Mentor nicht der war, für den man ihn hielt – vielleicht sogar ein NS-Täter. Doch dafür gibt es „noch keine konkreten Beweise“, wie Kelter auf Nachfrage eines anderen Jauss-Schülers antwortet, der dies mit sichtlicher Erleichterung vernimmt. Jauss sei von „Zeitgeist-Ideologen verurteilt worden“, was ihn nicht überzeuge, meint der Zuhörer. Er dankt Kelter für seine Darstellung. Kelter sagt: „Ich versuchte, einen dritten Weg zu gehen.“