„Diesen Lockdown kennen wir Rollstuhlfahrer gut, den haben wir im Winter öfters“, sagt Frank Hartel lachend, als er bei starkem Schneefall vor dem Rathaus in Markdorf aus seinem für ihn umgebauten Mercedes-Bus aus- und in seinen Rollstuhl umsteigt. „Bei Schnee geht dann gar nichts mehr“, sagt er und meint damit den Antrieb seines Rollis durch die Kraft seiner Arme. Somit sei er auf Hilfe angewiesen. Und nein, das Wetter finde er nicht schön. „Denn dann sind wir Rollstuhlfahrer wirklich gefangen.“

Gerade 21 Jahre alt geworden, schien das Leben grenzenlos. Der Stolz des jungen Frank Hartel war sein Motorrad. Es war das Jahr 1991, ein unbeschwerter Sommer stand bevor und eine Motorradtour zusammen mit drei Freunden an diesem Tag auf dem Plan. Heute ist Frank Hartel 51 Jahre alt und hat keine Erinnerung daran, was am Nachmittag des 27. April 1991 geschehen ist. „Bis zu den letzten beiden Stunden vor dem Unfall kann ich mich noch gut an den Tag erinnern“, erzählt er. „Das Wetter war schön“, sagt er. Auch wisse er noch, dass er am Vormittag auf einer Beerdigung war.
Der 27. April 1991 war sein Schicksalstag
Der Beisetzung folgte ein Mittagessen im „Adler“ in Markdorf. „Und danach habe ich mit meiner Schwester noch eine kleine Runde mit dem Motorrad gedreht.“ Hartel holt einmal tief Luft, so, als ob er dem Schicksal trotz allem gut gesonnen sei und nicht mehr damit hadere. „Ich habe meine Schwester in Riedheim wieder abgesetzt und bin mit meinen drei Kumpels alleine losgefahren.“ Ab dann wisse er nichts mehr.
Der Unfall ereignete sich auf der Kreisstraße in Richtung Mülldeponie bei Raderach: Ein Auto kam von der Straße ab, der Fahrer hatte das Lenkrad herumgerissen. Frank Hartel war im Bunde der Viererkolonne der Dritte. „Das Fahrzeug hat mich anscheinend voll aus der Gruppe rausgeschossen“, den anderen Dreien sei nichts passiert. Der heute 51-Jährige erzählt dies, als ob er die Tragödie nur vom Hörensagen kenne. „Ich habe bis heute keinerlei Erinnerungen daran“, sagt er. „Ich weiß alles nur aus Berichten.“
Heute zählt Hartel auch zur Corona-Hochrisikogruppe
Seit diesem Tag im Frühjahr des Jahres 1991 ist Frank Hartel querschnittsgelähmt – und zählt somit auch zur Corona-Risikogruppe. Aufgrund zweier durch den Unfall verursachter Lungenrisse weist seine Lunge lediglich noch eine Kapazität von 50 Prozent auf. Wie er sich denn schütze und ob er keine Angst hätte vor dem Virus? „Ich gehe kaum noch aus dem Haus“, erklärt er. Der Schnee täte gerade sein Übriges. Aber Angst sei kein guter Begleiter. Für mehr Rücksicht jedoch plädiere er bei manchen Menschen, die zu leichtfertig mit der Pandemie umgingen. Denn er selbst wisse noch nicht einmal, ob er sich überhaupt aufgrund seiner körperlichen Einschränkung gegen das Corona-Virus impfen lassen könne.

Längst hat Hartel Frieden mit seinem Schicksal geschlossen und lässt es mit den Verkettungen unglücklicher Ereignisse gut sein. „Heute könnte ich sogar dem Unfallverursacher in die Augen sehen“, sagt er. „Aber er lebt nicht mehr.“ Unmittelbar nach dem Unfall sei ihm dies nicht möglich gewesen. „Er hat mich einmal im Krankenhaus besucht, bat um ein Gespräch. Ich hätte ihm am liebsten den Schuh in den Arsch gehauen“, gesteht Hartel. Aber nicht einmal das funktionierte mehr.
Gemeinsam mit dem Vater ein Haus gebaut
Ein Jahr hat es gedauert, bis Hartel wieder Lebensmut schöpfte. Irgendwann sei schließlich der Zeitpunkt gekommen, wo er sich sagte: „Jetzt erst recht!“ Jetzt erst recht hatte er eine Ausbildung zum Maschinenbautechniker aufgenommen, jetzt erst recht seinen Abschluss gemacht und jetzt erst recht zusammen mit seinem Vater in Hepbach sein Haus gebaut. „Ich habe mich nicht länger als Wrack gefühlt, ich wollte wieder am Leben teilnehmen“, sagt er. In Frank Hartels Augen blitzt der zurückgekehrte Lebensmut aus dieser Zeit auf.

Jedoch, der Mut hielt nicht lange an, bis 1998 der nächste Schicksalsschlag folgte: „Mit nur 59 Jahren ist mein Vater an Leukämie gestorben.“ Seine Trauer über den Verlust schwingt noch heute in seiner Stimme mit. „Er hat für mich noch eine Bleibe gebaut, dann kam er als Gesunder ins Krankenhaus – und nie wieder nach Hause.“
Den Lebensmut nicht verloren
In der langen Zeit der ambulanten Reha lernte Frank Hartel seine Frau kennen. Als 2007 die erste Tochter geboren wurde, ahnte noch niemand, welcher Weg ihnen noch bevorstehen würde. Heute weiß die Familie, dass die ältere der beiden Töchter eine gesundheitliche Beeinträchtigung hat und ebenfalls auf den Rollstuhl angewiesen ist. Daher sind sämtliche Kontakte der Familie nach außen derzeit ausgesetzt. „Nach dieser Diagnose dachte ich: Jetzt würde es doch endlich reichen!“, verleiht Hartel seiner Auffassung von Gerechtigkeit Ausdruck.
Warum ihn das Schicksal so hart getroffen hatte, fragte er sich immer wieder und fand schließlich seine persönliche, wenngleich wenig philosophische Antwort darauf: „Der Hund kackt immer auf dieselbe Stelle.“ Wenn er das sagt, lacht er aufrichtig. Von Verbitterung keine Spur. Denn aller Schicksalsschläge zum Trotz hat er den Lebensmut nicht verloren. Im Gegenteil. Er hat seine Rolle gefunden. Als einer, dem das Leben den doppelten Mut abverlangt, als Vater, als Ehemann, als leidenschaftlicher Bastler – und nicht zuletzt als Behindertenbeauftragter der Stadt Markdorf. Und allen, die ein ähnliches Schicksal teilen, will er mit seiner Arbeit Lebensmut zurückgeben und neue Lebensqualität stiften.
Seit 2015 ist er Behindertenbeauftragter
Seit September 2015 ist Frank Hartel Behindertenbeauftragter der Stadt Markdorf. Und obwohl es in Corona-Zeiten nach außen hin still geworden ist um seine Rolle, tut sich im Verborgenen einiges. „Es war und ist mir ein großes Anliegen, Markdorf in dieser Sache voranzubringen“, betont er.
Die Stadt Markdorf als Vorreiter im Bodenseekreis
Wichtig sei es ihm auch zu betonen, dass Markdorf im gesamten Bodenseekreis die erste Gemeinde war, welche auf eigenes Drängen hin eine solche Stelle eingerichtet hätte.
Seitdem wird an Markdorfs Infrastruktur getüftelt, am Verkehrskonzept gefeilt, Zebrastreifen und Querungshilfen werden auf Barrierefreiheit überprüft und teilweise nachgebessert. Ein größeres Projekt, das bereits 2019 mithilfe von Hartel erfolgreich umgesetzt werden konnte, war ein vollständig barrierefreier Weg vom Bahnhof bis in die Markdorfer Innenstadt.
Was ihm nun vorschwebt, ist ein barrierefreier Stadtführer. „Zusammen mit Markdorf Marketing und dem Tourismus waren wir schon mitten in der Arbeit“, so Hartel. Dann kam Corona. Und die Ausarbeitung geriet ins Hintertreffen. „Auf jeden Fall will ich das in dieser Legislaturperiode umsetzen“, erklärt Hartel, der jeweils für vier Jahre vom Gemeinderat in seinem Amt bestätigt wird.
„Markdorf braucht den Austausch, gerade jetzt“
Eine weitere Herzensangelegenheit sei ihm die „Impuls-Mahlzeit“, zu der er am Nikolaustag 2019 den Anstoß gab. Es handelt sich hierbei um eine Anlaufstelle für sozial Schwächergestellte, für körperlich Eingeschränkte, Einsame, Senioren und generell alle, die gerne in Gesellschaft essen wollen. Hartel ist es ein großes Anliegen, mit diesem Angebot bald wieder starten zu können. „Denn wir haben gesehen, dass Markdorf diesen Austausch braucht. Nach Corona erst recht“, ist er überzeugt.

Barrierefreie Themen gehen ihm nicht aus
Auf seiner Agenda stehen auch neue Themen, wie etwa die Frage nach der barrierefreien Nutzung des Bischofschlosses, dem Turnhallenneubau an der Jakob-Gretser-Schule sowie dem Umbau des Rathauses.
Denn beobachtet man Hartel, wie er sich, durch das Schneetreiben endlich im Erdgeschoss des Rathauses angekommen, mit seinem Rollstuhl in den kleinen Aufzug zwängt, wird die Dringlichkeit für eine vollständige Neukonzeption mehr als deutlich. „Breiter dürfte der Rollstuhl wirklich nicht sein“, lacht er, als sich die Tür um Haaresbreite schließt.
Sein Engagement geht weiter
Und als sie im ersten Stock wieder aufgeht, piept sein Handy einmal kurz. „Ach, schon wieder eine Anfrage wegen einer Bushaltestelle, die schwer zugänglich ist“, blickt er vom Display auf. Der Schnee scheint Markdorf fest im Griff zu haben. Derweil Frank Hartel alles im Blick hat, was über den Schnee hinaus für Bewegungseingeschränkte das Leben erschwert – und er durch sein Engagement erleichtern kann.