Heike Gumsheimer

Anna Kahle (Name geändert) ist seit ihrer Kindheit Diabetikerin. Während der zweiten Schwangerschaft hat sich ihre Krankheit so sehr verschlechtert, dass sie inzwischen ihr Augenlicht auf einem Auge vollständig und auf dem anderen bereits zu ungefähr 70 Prozent verloren hat. Ärzte prognostizieren ihr die völlige Erblindung, einzig der Zeitpunkt könne durch entsprechende Behandlungen hinausgezögert werden, erzählt die junge Frau. „Als wäre das nicht Schicksal genug, muss Frau Kahle nun seit einem Jahr mit Behörden, der Krankenkasse und ihrem Vermieter kämpfen“, erzählt Christin Jungblut vom Leitungsteam des Mehrgenerationenhauses in Markdorf. Dorthin hatte sich Kahle vor einem Jahr verzweifelt gewandt.

Bittere Auseinandersetzung mit der Krankenkasse

„Meine Augenärztin in Friedrichshafen hatte mich im Dezember 2020 als Notfall in die Augenklinik nach Tübingen überwiesen. Eine dringende Behandlung, um die Sehfähigkeit auf dem einen Auge zu erhalten“, erzählt Kahle. Die Krankenkasse habe ihr einen Notfallschein ausgestellt und die Kostenübernahme für die Fahrt mit dem Taxi telefonisch zugesagt. Insgesamt drei solcher Termine habe es gegeben, immer wäre sie in Tübingen ambulant behandelt worden, sodass sie abends wieder bei ihren beiden Mädchen (2) und (5) sein konnte.

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Dann der Schlag ins Gesicht. Das Taxiunternehmen forderte 1800 Euro aufgelaufene Fahrtkosten von Kahle, weil sich die Krankenkasse weigerte, die Kosten zu übernehmen. „Das war der Moment, in dem sich Frau Kahle bei uns gemeldet hat“, sagt Jungblut. Gemeinsam habe man bei der Krankenkasse nachgefragt. Dort hieß es, dass Notfallscheine nur bei stationärem Aufenthalt gültig seien und man anzweifele, dass diese Zusagen gemacht worden seien. „Seither hat Frau Kahle auch noch Schulden, die sie aufgrund ihrer aktuellen Situation kaum je zurückzahlen kann“, erklärt Jungblut weiter. Kahle könne in ihrem gelernten Beruf in der Kreativbranche aufgrund ihrer mangelnden Sehfähigkeit nicht mehr arbeiten und auch für die Arbeit in der Altenpflege, in der sie als Aushilfskraft einige Jahre gearbeitet hatte, fehle ihr genügend Sehkraft. Daher bezieht sie in der Zwischenzeit Arbeitslosengeld und wird mittelfristig nicht mehr erwerbsfähig sein.

Und immer wieder die bürokratischen Hürden

Jungblut und das Team im Mehrgenerationenhaus haben seit dem Frühjahr ein Hilfesystem für die alleinerziehende Mutter aufgebaut. „Wir haben Blindengeld beantragt, wir haben einen Pflegegrad beantragt und wir versuchen beim Versorgungsamt eine Anerkennung auf Schwerbehinderung zu erwirken“, listet Jungblut auf. Aber allein das Ausfüllen der vielen kleingedruckten Anträge sei für Kahle fast unmöglich. „Da wird ein Aufwand verlangt, der grundsätzlich für Menschen in Not, aber in diesem speziellen Fall für eine fast blinde Frau, alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern, kaum machbar ist“, beklagt Jungblut die bürokratischen Hürden.

Im Mehrgenerationenhaus finden die Hilfsbedürftigen eine Anlaufstelle für ihre Nöte. „Familien in Not“ heißt die Hilfsaktion.
Im Mehrgenerationenhaus finden die Hilfsbedürftigen eine Anlaufstelle für ihre Nöte. „Familien in Not“ heißt die Hilfsaktion. | Bild: Stefanie Noßwitz

Es gäbe einige Ehrenamtliche, die Kahle zu den Arztterminen bringen würden, aber dann sei auch immer die Betreuung der Kinder zu Hause zu regeln, da in Corona-Zeiten die Kinder nicht einfach mit nach Tübingen kommen können. Ungeimpft bekämen die Kinder keinen Zugang zur Uniklinik. „Das ganze System basiert im Moment auf Ehrenamt und Goodwill und kann grundsätzlich und speziell unter Corona ganz schnell zusammenbrechen“, berichtet Jungblut.

Nach einer Mieterhöhung reicht das Wohngeld nicht mehr aus

Im vergangenen Jahr sei dann auch noch der befristete Mietvertrag ausgelaufen, berichtet Jungblut weiter. Der Mieter habe diesen zwar verlängert, aber die Miete um den gesetzlich möglichen Satz erhöht. „Die Höhe des Wohngelds bei Arbeitslosengeld-Empfängern ist jedoch auf einen bestimmten Betrag pro Wohnungsgröße festgelegt. Die Mietpreiserhöhung übersteigt jetzt monatlich das Wohngeld“, erklärt Jungblut ein weiteres Problem der jungen Frau. Der Mieter habe sich in einem Gespräch mit den Verantwortlichen im MGH der besonderen Situation von Frau Kahle gegenüber ungerührt gezeigt. „Eine neue Wohnung zu finden ist schon grundsätzlich nicht einfach, aber für eine fast blinde Frau, die darauf angewiesen ist, ihre Alltagswege so gut wie möglich zu kennen, ist ein Wohnungswechsel eine besonders schwierige Herausforderung“, weiß Jungblut.

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„Aus dem Spendentopf für Familien in Not finanzieren wir im Moment diese Mietpreisdifferenz, die Stromkosten und immer wieder Fahrten in die Uniklinik, denn der Erhalt der restlichen Sehfähigkeit so lange wie möglich ist das wichtigste Ziel“, sagt Jungblut. Mittelfristig brauche es jedoch eine neue Wohnung und eine Klärung der Kostenübernahme der Arztfahrten.

Viel Lob für das Durchhaltevermögen der jungen Frau

Jungblut ist voll des Lobes über die Energie und das Durchhaltevermögen der jungen Frau. „Sie ist reflektiert und kognitiv total fit. Ihre Kinder stehen für sie immer an erster Stelle. Sie will gesund für die Kinder kochen, sie weiß alles darüber, aber schon das Gemüse zu schälen ist ihr nicht oder nur sehr schwer möglich. Übersieht sie beim Wickeln eine kleine unsaubere Stelle, wird die Jüngste wund“, beschreibt die MGH-Mitarbeiterin nur einige wenige Alltagsnöte von Kahle.

Reiten, schwimmen, Tennis spielen: Die Krankheit nahm ihr alles

„Nach der Geburt meiner zweiten Tochter habe ich gemerkt, dass mein Partner ein Drogenproblem hat“, erzählt Kahle aus ihrem Leben. Er sei immer aggressiver geworden, daher habe sie trotz ihrer gesundheitlichen Situation beschlossen, die Beziehung zu beenden. „Fast zeitgleich ist mein Vater an Krebs gestorben“, sagt sie. Er habe sie mental immer sehr unterstützt. Manchmal auch ein wenig finanziell. „Meine Mutter ist selbst schwer krank. Sie kann zwar ihr Leben alleine meistern, aber sie hat nicht genug Kraft, auch noch mich zu unterstützen.“ Und ihre Geschwister seien in der ganzen Welt verstreut. Daher sei sie auf sich selbst gestellt. „Früher hatte ich ganz viel Energie. Ich ging Reiten und Schwimmen, spielte Golf und Tennis und war immer aktiv“, sagt sie. Heute sei ihre Welt ganz klein geworden. Manchmal forme sie aus Modelliermasse kleine Engel. Auf die Frage, warum sie gerade Engel forme, sagt sie: „Es gibt überall auf der Welt Engel, hier sitzt einer“ und weist auf Kristin Jungblut. Sie sei ihr sehr dankbar.

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Einen positiven Effekt ihrer ganzen Lebensgeschichte kann sie dennoch sehen. „Ich glaube, ich bin stark und ich bin sogar ein bisschen selbstbewusster geworden“, sagt sie, aber sie hätte auch furchtbare Sorgen: „Ich habe Angst davor, irgendwann vollständig zu erblinden und dann meine Kinder nicht mehr sehen zu können.“

Anna Kahle ist ein Pseudonym. Wir schützen die Menschen, die in Not geraten sind und die in unserer Mitte leben, indem wir ihre Anonymität wahren, wenn wir über ihre Schicksale berichten.

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