"Es war ein eisiger Nachmittag zwischen den Jahren, der Wind trieb von der Seite kleine Schneeflocken wie Nadelstiche ins Gesicht", erinnert sich Conny Rick an ihre Kindheit und an einen Spaziergang von Kluftern heim nach Markdorf. "Es dämmerte schon, und wir hatten beschlossen, bei Tante Maria in der Konradstraße einzukehren."

Mit Tee, Gebäck und Gastfreundschaft seien sie dort stets gütig empfangen worden. Nicht so an jenem unwirtlichen Abend. "Seht zu, dass ihr nach Hause kommt, es wird ja schon dunkel, bat uns Tante Maria nur ganz kurz in die Stube." Conny Rick ist jener Dezembernachmittag deutlich im Gedächtnis geblieben. Heute weiß sie um den Grund des vernehmbaren Schauders in der Stimme der Tante: Es war dies die Zeit der Raunächte.
"Als Kind wusste ich eigentlich nichts darüber", sagt Conny Rick heute. Es lag aber immer eine eigentümliche Stimmung über diesen Tagen, "irgendwie war das eine mystische Zeit". Während für Tante Maria die Dämmerung den Übergang in eine Zwischenwelt darstellte, wurden daheim von der Großmutter Kerzen entzündet für die verstorbenen Seelen.
Alles läuft ein bisschen langsamer
Das ganze Haus wurde vor Beginn dieser Tage geputzt, man brachte alle angefangene Arbeit zu Ende und alles lief einen langsameren, einen stilleren Gang. "Ich fragte nie weshalb", es sei einfach so gewesen, erinnert sich Conny Rick. Allein durch das Zuschauen und Zuhören hätte sie diese Zeit und deren "Spirit" begriffen. "Geist", sagt sie, "klingt so esoterisch". Lieber spricht sie von einer Beseeltheit der Dinge. Auch heute noch sind die Raunächte für Conny Rick heilige Nächte und heilige Tage. "Heilig im Sinne von heil, von ganz", erklärt sie. Die Zahl Zwölf sei von besonderer Bedeutung. Das große Ganze. Zwölf Monate, zwölf Apostel, die zwölf Stämme Israels, zwölf Stunden als Einteilung der Zeitmessung. Und traditionell werden zwölf Kerzen am Christbaum entzündet: eine für jeden Monat und für jede Raunacht.
Für viele ein Aberglaube
Vielen mag der Mythos der Raunächte als Aberglaube erscheinen. "Man muss sich dabei aber immer fragen, was der praktische Sinn hinter diesem Aberglauben ist", sagt Conny Rick. Etwa, was das Verbot des Wäschewaschens, vor allem des Aufhängens weißer Wäsche an diesen Tagen belangt. Es ist natürlich nicht das wilde Heer, das sich in den Leinentüchern verfangen könnte, oder Odin, deren Anführer ein weißes Tuch als Leichentuch von der Leine zerrt, sondern der rein pragmatische Aspekt.

Nämlich sich einmal ausruhen zu dürfen und das obendrein mit einer "plausiblen Ausrede". "Wir haben heute verlernt, einmal innezuhalten und nichts zu tun", ist die Informatikerin der Ansicht. Auch die Spinnräder hatten in dieser Zeit still zu stehen. Das Hamsterrad hatte buchstäblich aufgehört, sich zu drehen. Für Conny Rick bedeutet Stillstand die Chance, Neues zu ermöglichen, sich darauf einzulassen. Sich zu besinnen.
Räuchern in den Raunächten
Ein bis heute verbreiteter Brauch in den Raunächten ist das Räuchern. Um Haus, Mensch und Tier vor Unheil zu schützen, werden Heilpflanzen und Harze in Räucherschalen in jeden Winkel getragen. Conny Rick bedient sich gerne dieses Rituals. "Man kann die Kräuterbuschel von Mariä Himmelfahrt gut dazu verwenden", sagt sie. Sie hingegen bevorzuge Weihrauch und Myrrhe. "Früher nahm man ein Stück Kohle aus dem Küchenherd und legte das Räuchergut drauf", erklärt die Kräuterpädagogin. Dann wurde von der zentralen Feuerstelle ausgehend begonnen, das Haus zu räuchern. "Immer nach rechts", deutet sie mit dem Arm eine ausladende Geste an und schiebt behutsam die wabernden Rauchschwaden in jede Ecke des Raumes.
"Erst wenn ich jeden Winkel und jedes Zimmer erreicht habe, öffne ich das Fenster und lasse alle negative Energie nach draußen." Ein schönes Ritual, wenn man den tieferen Sinn zu begreifen beginnt. "Man muss sich auf die Schwingungen einlassen", ist sie der festen Überzeugung. Ob sich dieses Mitschwingen in irgendeiner Weise messen lässt? "Es ist tatsächlich wissenschaftlich belegt, dass Weihrauch den Schall weiter trägt", schreibt Conny Rick dem Harz diese Qualität zu.
Muss alles messbar sein?
Aber muss immer alles messbar und belegbar sein? "Manche behaupten auch, ich hätte einen Knall", lacht die Informatikerin. Wenn dieser Knall freilich so viel gute Energie freisetzen kann, dann spielt es keine Rolle, ob Aberglaube oder Wissenschaft. Und wenn man sich einmal darauf einlässt, dann ist die Zeit der Raunächte, in der Chaos mit Ordnung kämpft und wilde Geister und Dämonen durch die Lande ziehen, eine ebenso wundervolle wie magische Zeit des Wandels, des Neubeginns, der Reinigung und der Besinnung.
Wissenswertes über die Raunächte
- Das Wort "Raunacht" leitet sich vom mittelhochdeutschen "rûch" ab, was so viel bedeutet wie haarig oder wild. Aber auch von Rauch; vielerorts heißen die Nächte deshalb auch Rauchnächte. Von der Nacht auf den 25. Dezember bis zum Morgen des 6. Januar herrscht die Zeit der zwölf sogenannten Raunächte. Alles, was einem in diesen Tagen oder Nächten begegnet, passiert oder auch als Idee einfällt, kann sich im entsprechenden Monat erfüllen – so stehen also der 25. Dezember und die Nacht vom 25. auf den 26. Dezember für den Januar des kommenden Jahres – und so weiter. In der Weihnachtszeit wird damit orakelhaft das kommende Jahr abgelesen, darum werden die zwölf Raunächte auch "Losnächte" genannt. Zu einem weit verbreiteten Brauch gehört das Zwiebelorakel, das während der Raunächte verraten soll, ob das kommende Jahr eher feucht oder trocken wird.
- In einer anderen Variante beginnen diese magischen Wundernächte bereits am Vorabend zum 21. Dezember – also zur Wintersonnwende, bzw. am Sankt-Thomas-Tag. Was nun genau richtig ist, darüber streiten sich die Geister. Eins ist für alle Varianten wichtig: In diesen Tagen darf alles gründlich mit Ritualkräutern durchgeräuchert werden – Haus, Wohnung, Stall. Damit sollen dem (Aber)Glauben nach böse Geister vertrieben werden. Heute ist es eine schöne Gelegenheit, dicke Luft im Wortsinn zu vertreiben.
- Noch immer ist für viele Menschen diese Zeit von großer magischer Kraft. Das mag daran liegen, dass sie außerhalb der "normalen Zeit" liegt. Es handelt sich also um elf Tage und zwöfl Nächte, die quasi nicht existent sind. Was aber ist der Ursprung dieser Tage? Um die Differenz zwischen zwölf Monaten in Mondphasen (354 Tage) und dem Sonnenjahr (365 Tage) auszugleichen, fügten die Kelten elf Schalttage ein – und sahen diese Tage nun als außerhalb der Zeit liegend an. Darauf gründet der Begriff "zwischen den Jahren".