Ravensburg/Bodenseekreis – Prellungen. Hämatome. Knochenbrüche. Was Roxan Krummel in frühester Kindheit an Misshandlungen ertragen muss, noch bevor sie laufen kann, ist nur schwer vorstellbar. Mit 18 Monaten nimmt das Jugendamt das verwahrloste Mädchen ihrer Mutter weg, die die Misshandlungen ihres Lebensgefährten nicht verhindert. Das Kleinkind kommt zu Pflegeeltern.

Fast emotionslos liest die heute 23-Jährige ihren eigenen Lebensbericht im Konferenzsaal des Vereins Arkade in Ravensburg vor. Mucksmäuschenstill ist es im Raum, in dem Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet sitzen, die beruflich in der Jugendhilfe unterwegs sind. Die meisten von ihnen haben selbst tagtäglich mit Jugendlichen zu tun, die in Heimen oder als Pflegekinder aufwachsen – ob als Sozialarbeiter oder Mitarbeiter eines Jugendamts. Die Arkade hatte anlässlich ihres 20-jährigen Engagements in der Jugendhilfe zu einer Fachkonferenz eingeladen, die sich ganz bewusst den Careleavern widmete. Damit sind Heim- und Pflegekinder gemeint, die quasi in der Obhut des Staates, nicht ihrer Eltern, groß werden und in der Regel mit dem 18. Geburtstag aus der Jugendhilfe herausfallen – ohne meistens wirklich erwachsen zu sein.

So erging es auch Roxan Krummel, deren Wunden von damals verheilt sind. Heute ist die junge Frau stellvertretende Vorsitzende des Vereins Careleaver, der sich als Sprachrohr junger Menschen versteht, die mit der Volljährigkeit auf sich allein gestellt sind, obwohl sie eigentlich mehr Unterstützung bräuchten als Jugendliche aus „normalen“ Familien. „Eigentlich bin ich kein klassischer Careleaver, weil ich mit meinen Pflegeeltern so was wie eine richtige Familie habe“, erklärte sie als Gast der Fachkonferenz. Und doch stürzte sie mit 18 Jahren in eine Lebenskrise, weil sie sich wie ein Niemandskind fühlte: weder das Kind ihrer leiblichen Eltern, noch das der Pflegeeltern, die diesen Status mit dem 18. Geburtstag pro forma verloren. Was das für Roxan Krummel praktisch bedeutet, zeigt nur ein Beispiel: Wenn ein Kind nicht adoptiert ist, müssen die Pflegeeltern keinen Unterhalt zahlen. Für den Bafög-Antrag brauchte Roxan Krummel deshalb die finanzielle Auskunft ihrer leiblichen Eltern, zu denen sie aber seit ihrer Kindheit keinen Kontakt mehr hat. „Von den eigenen Eltern kann man sich leider nicht scheiden lassen“, sagte sie.

„Es gibt wenig Verständnis und kein Bewusstsein für Menschen wie uns Niemandskinder“, stellte Roxan Krummel fest. Das deckt sich mit den Forschungsergebnissen, die der Soziologe Professor Wolfgang Schröer von der Uni Hildesheim bei der Konferenz darlegte. Die Probleme, die Careleaver haben, seien selbst in der Fachwelt nur wenig thematisiert. Und doch fange die Politik an, diese Gruppe stärker in den Blick zu nehmen. Der im Februar vorgestellte Kinder- und Jugendbericht 2017 der Bundesregierung formuliere klar den Auftrag, bedarfsgerechte Hilfsangebote für junge Erwachsene zu schaffen. Eigentlich steht schon lange im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dass Jugendlichen „Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden“ soll, solange das notwendig ist – in der Regel bis zum 21. Lebensjahr. „Diese Hilfe wird aber so gut wie gar nicht gewährt“, erklärte Schröer und verwies auf eine „gewisse Willkür oder ein Lotteriespiel“ der Jugendämter, die darüber entscheiden, ob einem jungen Menschen Jugendhilfe über den 18. Geburtstag hinaus gewährt wird oder nicht.

Wie unrealistisch es ist, dass 18-Jährige von heute auf morgen auf eigenen Füßen stehen sollen, verdeutlichte Schröer anhand einiger Zahlen. Während der deutsche Jugendliche heute im Durchschnitt erst mit 23 Jahren zuhause auszieht, ist ein Careleaver im Durchschnitt mit 18,2 Jahren auf sich gestellt und wird so beispielsweise mit seiner beruflichen Karriereplanung allein gelassen, während viele Gleichaltrige noch die Schulbank drücken. Nach Meinung von Wolfgang Schröer hat sich aber die öffentliche Jugendhilfe in das Leben eines jungen Menschen eingemischt, und „diese Verantwortung endet nicht mit dem 18. Geburtstag“.

Etwa 15 000 Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in Wohngruppen, Heimen oder bei Pflegefamilien auf. Sie alle werden erwachsen und brauchen nach Meinung von Wolfgang Schröer eine Begleitung durch die Jugendhilfe bis zum 25. Lebensjahr, „nicht unbedingt Hilfe, aber Aufmerksamkeit, denn viele fallen in Existenznöte“, sagte er. Wenn die Jugendämter wüssten, dass sie mit dem 18. Geburtstag eine Akte nicht automatisch schließen dürfen, dann gingen die Mitarbeiter auch anders damit um. In Norwegen beispielsweise gibt es Hilfe bis 23 Jahre, die das Jugendamt nur mit sehr guter Begründung vorzeitig beenden kann.

Arkade und "JuMeGa"

  • Die Arkade: Der Ravensburger Verein Arkade wurde 1977 als Träger gemeindepsychatrischer Einrichtungen gegründet. Aus dieser Arbeit heraus entwickelte sich auch ein Angebot in der Jugendhilfe. 1997 wurde das Konzept „Junge Menschen in Gastfamilien“ aufgelegt, kurz "JuMeGa". So wurde die Arkade auch Träger der Jugendhilfe und ist heute in beiden Bereichen tätig.
  • "JuMeGa":Die Arkade vermittelt bei diesem Dienst besonders ältere Kinder, Jugendliche und auch junge Volljährige, die in ihrer Entwicklung massiv beeinträchtigt oder von seelischer Behinderung bedroht sind, in Gast- oder Pflegefamilien. Die "JuMeGa"-Mitarbeiter betreuen und begleiten diese Familien intensiv. Viele Jugendliche haben bereits einen oder mehrere stationäre Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychatrie hinter sich. Der Alltag in Gastfamilien bietet ihnen die Chance, Normalität zu erfahren.
  • "JuMeGa" spezial:Seit 2015 vermittelt die Arkade auch junge Mütter mit Kind in Gastfamilien und unbegleitete minderjährige Ausländer. "JuMeGa" ist heute ein deutschlandweiter Anbieterverbund, das Label ist geschützt. (kck)