Brunhilde Stahl war 16 Jahre alt und ging im Winter 1963 täglich auf dem Bodensee zum Schlittschuhlaufen. Der See war damals komplett zugefroren – Seegfrörne! Ein Jahrhundertereignis. „Wir haben uns immer im Schulbus von Friedrichshafen besprochen: Heute Mittag gehen wir wieder aufs Eis, klar“, erzählt sie. Sie hatte als eine der wenigen schon Schlittschuhstiefel, bei denen die Schuhe mit den Kufen verbunden waren und nicht angeschnallt werden mussten.
Heinz Bauer war 22 Jahre alt, Maschinenbaustudent in Konstanz und zur Zeit der Seegfrörne 1963 bei seinen Eltern in Immenstaad. „Ich war im letzten Semester und habe meine Diplomarbeit geschrieben“, erinnert er sich. Am 6. Februar hatte er vom stellvertretenden Bürgermeister Hans Meichle gehört, dass einigen Hagnauern die Seeüberquerung gelungen war. „Ich habe gedacht: Was die Hagnauer machen, das probieren wir auch mal. Nach dem Essen habe ich die Schlittschuh angeschnallt.“
Zunächst fuhr Heinz Bauer zu einem eingefrorenen Ponton, etwa 800 Meter vom Steg entfernt, an dem sich einige Schlittschuhläufer getroffen hatten. Der Himmel war blau, das Eis spiegelglatt und es war knackige minus 20 Grad kalt, erzählt er: „Dann bin ich so losgefahren, ganz langsam, und hab die Sonne angepeilt. Uttwil, dachte ich, das packst du.“

Auf einmal hatte er vier Begleiter, die 14- und 16-jährigen Schüler Nobert Dikreuter und Hermann Hund, den bereits berufstätigen 22-jährigen Franz Leistler und die Handelsschülerin Brunhilde Stahl. „Wir anderen wussten das mit Hagnau noch nicht. Wir haben gedacht, wir gucken mal, wie weit wir kommen. Man hat ja nicht gesehen, wie weit der See zugefroren ist“, sagt Brunhilde Bauer. Sie selbst war zufällig beim Ponton. Heinz Bauer kannte sie vorher nicht – heute sind sie verheiratet.
„Wir haben gesagt: Wenn wir in fünf Minuten kein Land sehen, drehen wir um.“Heinz Bauer
Langsam bewegten sich die Jugendlichen vorwärts. Nach etwa einem Kilometer sahen sie weder vor noch hinter sich Land. Immer wieder bildeten sich mit lautem Krachen Risse im Eis. Irgendwann wollte Brunhilde Stahl umkehren. „Ich musste um 3 Uhr zu Hause sein. Ich war in der Garde und eine Nachbarin nähte mir ein neues Kostüm. Wenn du nicht zur Anprobe kommst, kann ich nicht weiternähen, hatte sie gesagt“, erzählt sie. Die anderen überredeten sie, weiterzulaufen. „Wir haben gesagt: Wenn wir in fünf Minuten kein Land sehen, drehen wir um“, sagt Heinz Bauer.
Da tauchten Schlittschuhläufer und die Silhouette von Romanshorn auf. Mit einem Seil war die Lauffläche nach Norden abgegrenzt. „Als wir aus dem Nebel kamen, fragte sofort ein Zöllner, was wir da draußen machen. Als wir sagten, wir kommen von Immenstaad, hat der sich schier auf den Hintern gesetzt“, erinnert sich Heinz Bauer.
Kein festes Schuhwerk, kein Pfennig Geld in der Tasche
Er rief von einem Privathaus im Hotel Seehof an. „Das war die einzige Nummer, die ich kannte, damals hatten ja noch nicht so viele Telefon.“ Die Seehof-Wirtin habe sofort gesagt: „Heinzi, bist du‘s? Kommt sofort heim, man sucht euch!“ Den Zug konnten sie nicht nehmen. „Wir hatten ja keinen Pfennig Geld dabei“, sagt er und sie fügt hinzu: „Ich hatte die festen Stiefel. Ich hätte barfuß laufen müssen.“
So folgten sie ihren eigenen Spuren zurück. Für die 12 Kilometer hatten sie auf dem Hinweg eineinhalb Stunden gebraucht, zurück ging es in der halben Zeit. Als sie gegen halb fünf in Immenstaad ankamen, erwartete sie das halbe Dorf, der stellvertretende Bürgermeister machte Fotos.
„Wir hatten einen Schutzengel – nein, mehrere Schutzengel.“Brunhilde Bauer
Später erst wurde ihnen klar, in welche Gefahr sie sich begeben hatten. „Wenn einer eingebrochen wäre, der wäre weg gewesen. Das Eis hat nur gehalten durch die Spannung. Deshalb hat es immer so geknallt, wenn sich Risse gebildet haben. Wenn ich allein unterwegs gewesen wäre und wäre eingebrochen, hätte man nicht einmal gewusst, wo man suchen muss“, sagt Heinz Bauer. Seine Frau stimmt zu: „Das war Leichtsinn hoch hundert. Wir hatten noch nicht mal Mützen und Handschuhe an. Wir hatten einen Schutzengel – nein, mehrere Schutzengel.“
Heinz Bauer überquerte den See am nächsten Tag gleich noch einmal, zusammen mit einer Immenstaader Delegation aus 17 Männern. „Der Bürgermeister und der Ratsschreiber hatten in die Statuten geschaut. Auf den Tag genau am 7. Februar vor 83 Jahren bei der letzten Seegfrörne waren vier Uttwiler nach Immenstaad gelaufen und hatten sich dort beim Bürgermeister gemeldet“, erzählt er. Die Immenstaader riefen am anderen Seeufer an und meldeten den Gegenbesuch an.

Sie folgten den Spuren der Jugendlichen. „Jetzt hatten wir ein Seil dabei, einer ist mit dem Fahrrad rüber“, sagt Bauer. In Romanshorn tranken sie Kaffee und fuhren nach Uttwil, wo sie mit dem Mittagessen erwartet wurden. Der Rückweg gestaltete sich schwieriger: „Vor Romanshorn war eine Spalte im Eis von ungefähr 200 Metern Breite“, sagt er. Sie umgingen den Spalt und stießen vor Immenstaad auf die nächste offene Stelle. „Ein Fischerboot hat immer zwei von uns von einer Eiskante zur anderen gebracht.“

Brunhilde Stahl ging an diesem Tag nicht über den See. „Mein Vater hat mich in die Schule gefahren und gewartet, bis ich drin war. Nicht, dass sie sich dem anschließt, dachte er wohl. Aber Schule schwänzen, das ging ja nicht“, sagt sie.
Die Aktion der Jugendlichen inspirierte auch die Narren. Die Hennenschlitter besannen sich auf die alte Tradition, über den See nach Münsterlingen zu fahren. Am 8. Februar 1963 machte sich der damalige Narrenvater Franz Traub mit Hennen, Hexen und Narrenpolizist im Häs auf den Weg. Wie zu den Zeiten, als Immenstaad Münsterlingen den Zehnten schuldete, hatten sie Hennen, Eier, Speck und Schnaps auf den Hennenschlitten geladen. Die Münsterlinger erwarteten sie mit einem Volksfest. Einige begleiteten die Hennenschlitter zurück – der Beginn einer langjährigen Freundschaft. In Münsterlingen gründete sich die Hechtler-Clique, die bis heute bei keiner Immenstaader Fasnet fehlt.
Fünf Jahre später läuten die Hochzeitsglocken
Bei dieser Tour ging Heinz Bauer nicht mehr mit. „Von Hagnau aus bin ich später mit der Mutter noch mal rüber, da haben wir Kaffee und Schokolade geholt.“ Brunhilde Stahl lud er am kommenden Sonntag zu Kaffee und Kuchen in Meersburg ein – per Schlittschuh natürlich. Fünf Jahre später heirateten sie.