Der Zöllner, der das Romanshorner Seeufer patrouillierte, konnte es kaum glauben. Da standen auf einmal fünf junge Deutsche in Schlittschuhen vor ihm auf dem Eis und behaupteten, von Immenstaad aus über den See in die Schweiz gefahren zu sein. "Die Pässe wollte er dann jedenfalls nicht mehr sehen", erinnert sich Heinz Bauer, der unter den fünf ersten Immenstaadern war, die den See überquerten. Es war der 6. Februar 1963.
See war im Uferbereich bereits seit Tagen zugefroren
"Das war purer Leichtsinn und mich schaudert es noch heute, wenn ich daran denke", sagt Bauer. Es war neblig an diesem Februarmorgen, 1963. Eine lange Kälteperiode ging voraus, der See war im Uferbereich schon einige Tage vorher zugefroren. "Gegen Mittag traf ich den stellvertretenden Bürgermeister Hans Meichle", erinnert sich Bauer, "der sagte zu mir: 'Heinzi, die Hagnauer haben es schon rüber geschafft.'"
Erste Begegnung des heutigen Ehepaars
Das ließ sich der 22-jährige Student nicht zweimal sagen, zog sich warm an, packte die Schlittschuhe ein und lief zum Landungssteg. Von dort aus fuhr er das erste Mal zu einem Ponton, der rund einen Kilometer östlich vom Steg im Eis eingefroren war. "Dort traf ich vier andere Immenstaader und wir beschlossen, einfach mal weiter zu fahren, um zu schauen, wie weit wir kommen", sagt Bauer. Mit dabei: Seine heutige Frau Brunhilde, die damals 16-jährige Bruni Stahl.

"Wir fuhren und fuhren, und irgendwann haben wir Immenstaad nicht mehr gesehen. Die Schweiz aber auch nicht. Alles war neblig", berichtet Bauer. Allein die Sonne, die durch den Nebel schien, gab den jungen Leuten noch Orientierung. Das Eis brach laut, wenn sie zu dicht nebeneinander fuhren. Es gab immer wieder Risse. "Dieses Geräusch vergesse ich nie", sagt Bauer, "wir schrien dann: Auseinander, auseinander."
Da muss die Kostümprobe der Prinzengarde warten
Brunhilde wollte umdrehen, sie musste zur Kostümprobe. Es war Fasnacht, sie war in der Prinzengarde. Die anderen wollten sie nicht alleine zurück fahren lassen. Schließlich drehte die 16-Jährige doch um und fuhr auf den hinterlassenen Spuren zurück. Kaum war Bruni weg, sahen die restlichen Vier das Schweizer Ufer. Bauer holte Bruni zurück und sie fuhren gemeinsam in die Schweiz, wo sie erstmal auf den Zöllner trafen.
Heimreise im Zug nicht möglich
Von Romanshorn aus riefen sie im "Hotel Seehof" in Immenstaad an. Es herrschte Aufregung pur. "Die Seehof-Wirtin berichtete uns, dass bereits ein Hagnauer eingebrochen war", erinnert sich Bauer, "sie sagte, wir sollen für den Heimweg den Zug nehmen. Doch wir hatten kein Geld dabei." Und so sind die jungen Furchtlosen die zwölf Kilometer auf dem See zurückgefahren – in ihren eigenen Spuren, weiterhin ohne Seil, ohne Leiter. Dass sich dabei mitten in einem unvergesslichen Jahrhundertereignis befanden, war ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht klar.
Die Seegfrörne und ihre Schokolade
Die Schokolade: Dieter Budde (75 Jahre) aus Immenstaad studierte gerade Jura in Tübingen, als der See in seiner Heimat Immenstaad zugefror. Gemeinsam mit seiner damaligen Freundin und heutigen Frau Heide und dem Airedale-Terrier Michel machte er sich auf den Weg nach Immenstaad, um das Naturspektakel selbst zu erleben.

Und so liefen die beiden am 7. Februar 1963 gemeinsam mit vielen anderen Schaulustigen von Hagnau rund sieben Kilometer ins schweizerische Altnau. "Es war schon ein wenig unheimlich", erinnert sich Budde. Aber hier galt das Eis, trotz der tiefen Wunnen, als sicher – im Gegensatz zur Seemitte.

In Altnau herrschte am Ufer Volksfeststimmung, in Bretterbuden wurden Würstchen verkauft. Nur wenige Tage später, am 9. Februar, wagten sich auch Buddes Eltern aufs Eis und kauften zur Erinnerung in Altnau eine Tafel Schokolade, Marke "Cailler", Sorte "Mokanor". Und genau diese Schokolade ist noch heute in Familienbesitz.

Weder Dieter Budde selbst, noch seine drei Kinder oder seine neun Enkel haben sie je angerührt. Dafür wurde die Tafel bereits zum Filmstar, als die zweite Klasse der Stephan-Brodmann-Schule mit Filmemacher Bernhard Wrobel 2015 einen Film über die Seegfrörne gedreht und dabei den zweiten Platz des History Award gewonnen hat.
Die Seegfrörne: Nur 33 Seegfrörne sind seit dem Jahr 875 überliefert. Die letzte nun vor 55 Jahren, als die jungen Immenstaader die Überfahrt wagten. Zunächst froren der Untersee und der Überlinger See zu. Dann mussten alle Schiffsverbindungen eingestellt werden und kurz darauf schloss sich die Eisdecke des Obersees. Im Februar 1963 zogen dann nach und nach Zehntausende auf das Eis. Zu Fuß, auf Schlittschuhen, mit Fahrrädern, sogar Autos waren auf dem Eis unterwegs. Zwei junge Schlittschuhfahrer umrundeten den See in 35 Stunden, 160 Kilometer auf Kufen. Es gab Gemeinderatssitzungen auf dem Eis, an der Fasnacht spielten Blaskapellen auf dem See, es gab Eisprozessionen. Schaulustige aus ganz Deutschland kamen an den See und an manchen Wochenenden sollen bis zu 60 000 Menschen auf dem Bodensee umherspaziert sein. (sab)
Damals und heute
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