Knapp 100 Menschen leben derzeit im ehemaligen Hotel Goldener Hirsch am Charlottenstraßenkreisel in Friedrichshafen. Damit ist die Übergangsunterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine voll belegt. Wie lang die Menschen jeweils dort untergebracht seien, hänge davon ab, wie schnell sich eine Wohnung für die jeweiligen Familienverbände finden lasse, erklärt die städtische Pressesprecherin Andrea Kreuzer.
Während oft nur von flüchtenden Frauen und Kinder ist, sind hier auch ein paar wenige Männer untergekommen. Darunter Sergiy Lokhmachov, der Friedrichshafen gemeinsam mit seiner Frau Alona, seinem 14-jährigen Sohn Mykhaylo und seiner dreijährigen Tochter Mariia erreicht hat. Er ist in Donezk geboren und aufgewachsen, seine Frau stammt ursprünglich aus Enerhoda. Sie lernten sich während des Studiums in Charkiw kennen, verliebten sich – und blieben dort. Alona Lokhmachova arbeitete als selbstständige Setstylistin für Film- und Fotoproduktionen, ihr Mann war im Vertrieb von Industriekühlschränken tätig.
„Genau geplant, wie sie allein mit den Kindern weiterkommt“
Den Kriegsbeginn in seinem Herkunftsort hat der 39-Jährige 2014 so nur aus der Ferne erlebt. „Es war eine schwere Zeit dort, aber in Charkiw war alles gut“, schildert er. „Damals kamen Menschen aus Donezk und Luhansk nach Charkiw. Sie hatten alles verloren und mussten dort von Null anfangen.“ Heute seien sie selbst in ebendieser Lage. Mit dem 24. Februar 2022 habe sich alles verändert.
Auf dem Weg an die ukrainisch-polnische Grenze war sich der 39-Jährige, nicht sicher, ob er diese überhaupt würde queren können. „Ich habe bis zuletzt gezweifelt und mit meiner Frau genau geplant, wie sie allein mit den Kindern weiterkommt“, schildert er. Lokhmachov ist ein Mann im wehrfähigen Alter und dürfte als solcher die Ukraine eigentlich nicht verlassen; das entsprechende Kriegsrecht mit Ausreiseverbot trat kurz nach der russischen Invasion in Kraft.
Es gibt aber Ausnahmeregeln für Väter von mindestens drei Kindern, für nachweislich nicht wehrfähige Männer und Alleinerziehenden – wenn besondere Umstände vorliegen. In Lokhmachovs Fall ist seine kleine Tochter der besondere Umstand: Die Dreijährige ist an Krebs erkrankt, benötigt eine Behandlung und die Unterstützung beider Eltern. „Ich hatte einen schriftlichen Nachweis“, erklärt der 39-Jährige. Doch bis zuletzt sei er nicht sicher gewesen, ob dieser ausreichen würde. Jetzt sitzt er sichtlich erleichtert an einem Tisch in dem ehemaligen Hotel in Friedrichshafen. Die Familie hat es in Sicherheit geschafft.
Zunächst kam die Familie in Enerhoda unter
Ihr erster Weg hatte sie zunächst nach Enerhoda geführt, wo die Familie bei Verwandten unterkam. „Bei Enerhoda ist ein großes Atomkraftwerk. Wir dachten, dass wir dort sicher sind“, erklärt Alona Lokhmachova. Tatsächlich ist das Kernkraftwerk, bekannt unter dem Namen Saporischschja, benannt nach dem umliegenden Regierungsbezirk, das größte in Europa. Bereits am Tag nach ihrer Ankunft nahmen russische Truppen das Gelände jedoch ein.
Es folgte eine Zeit voller Entbehrungen. „Es kam niemand mehr durch, auch keine Lebensmittellieferungen“, schildert Lokhmachova. Bald seien die Regale in den Supermärkten und auch die kleinen Kühlschränke in den Tankstellen komplett leer gewesen. „Am 3. und 4. März stand ich am Fenster und sah russische Raketen“, schildert sie. Da habe sie sich gefragt, ob sie bald an der Strahlung sterben würden.
„Als wir los sind, haben russische Soldaten das Feuer auf uns eröffnet“
Zwei Wochen später, am 19. März, konnten sie den Ort endlich verlassen. „Der Bürgermeister sagte, wir haben diese eine Chance, mit einem Konvoi des Roten Kreuzes rauszukommen“, gibt sie seine Worte wieder. Etwa 100 Privatfahrzeuge seien zwischen Rettungswagen aus der Stadt gefahren. „Als wir los sind, haben russische Soldaten das Feuer auf uns eröffnet“, erinnert sie sich. Doch sie hätten es geschafft und überlebt.
Sergiy Lokhmachov ergänzt: „Es war viel zu viel Verkehr und gab so viele Checkpoints, an denen russische Soldaten unsere Papiere sehen wollten.“ So hätten sie für eine Strecke, die man normalerweise in wenigen Stunden habe zurücklegen können, drei Tage gebraucht. Dann erreichten sie das zu diesem Zeitpunkt einigermaßen sichere Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Doch das Land hätten sie schließlich komplett verlassen. „Es gibt keinen sicheren Ort mehr in der Ukraine“, begründet Lokhmachova. „Ganz egal, wo russische Soldaten am Boden sind, die Raketen kommen überallhin.“