Wie in vorangegangenen Ausstellungen widme sich auch die aktuelle Ausstellung zentralen Fragen der Gegenwart, sagt Museumsleiterin Claudia Emmert in ihrer Eröffnungsansprache live aus dem Zeppelin Museum.
Zwei Jahre sind zwischen der Planung und der virtuellen Eröffnung der Ausstellung „Beyond States – über die Grenzen von Staatlichkeit“ vergangen. Zwei Jahre, in denen sich der Blick auf das Thema entscheidend verändert hat – und viele Themen neu bewertet werden müssen.
Die Pandemie verändert den Blick auf das Thema
Noch 2018 hatte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot für die Abschaffung der Nationalstaaten in Europa plädiert und stellte fest, dass die Nation nicht der Träger von Identität sei. Nach nur einem Jahr Covid-19-Pandemie ließe sich ein Erstarken nationalstaatlicher Konzepte feststellen, sagt die Museumsdirektorin in die Kamera.
Selbst Bilder hoffnungslos überforderter Krankenhäuser in Italien führten nicht zu europäischem Denken. Heute wird vor dem Hintergrund der Impfstoffknappheit auch infrage gestellt, dass die Regierung bei der Bestellung im nationalen Interesse Deutschlands gehandelt hat.
Beinahe eine halbe Stunde lang widmet sich das Online-Opening am Donnerstag der Einführung in die Ausstellung und der Aufzählung der vielfältigen Themen, bevor Simone Lipski, Pressesprecherin des Museums, den virtuellen Rundgang über 900 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit ausgewählten Stationen moderiert, die vorerst noch nicht zu besuchen sind.

Ein Prototyp eines Spiels namens „Founders“, das es nicht zu kaufen gibt, und das auf der Idee der „Siedler von Catan“ basiert, fordert die Spieler auf, sich angesichts einer zerfallenden Welt zunächst nach Neuseeland, dann auf den Mond und selbst auf den Mars zu retten.
Schonungslos geht es um Kolonialisierung und Expansion selbst über irdische Grenzen hinweg. Der Künstler Simon Denny reflektiere in seinem Spiel neolibertäre Vorstellungen vom Zerfall von Nationalstaaten, erklärt Ina Neddermeyer, Kuratorin der Abteilung Kunst.

Auch 1914 beschäftigte sich bereits ein Spiel mit dem Thema Expansion. Das Brettspiel „Der Luftkrieg“ zeigt auf dem Deckel seiner Verpackung einen Luftangriff auf die britischen Inseln, den Traum des deutschen Kaiserreichs.
Der Kurator der Abteilung Zeppelin, Jürgen Bleibler, hat mit seinem Team die riesige Sammlung des Museums unter dem Gesichtspunkt der Grenzziehung aus der Luft durchforstet und zahlreiche Exponate, auch solche, die den Nationalstaat symbolisieren, zusammengestellt.
Der Zeppelin als nationales Symbol
Eines dieser nationalen Symbole, der Zeppelin, hat ab 1915 als Bombenträger den Krieg aus der Luft, der Ende des Zweiten Weltkriegs im Abwurf von Atombomben gipfelte, erst möglich gemacht. Der Schutz der Bevölkerung durch ihren Staat gewann dadurch enorm an Bedeutung, vom Verteilen von Gasmasken bis zur Anleitung zum Anlegen von Vorräten.
Die Kamera folgt Bleibler in die Ausstellung, wo an transparenten Stellwänden Plakate und Briefe sowohl die Perspektive des Staates, als auch die der Opfer beleuchten.

War im Krieg der Staat als Beschützer seiner Bevölkerung gefragt, setzt die sogenannte „Prepper“-Szene darauf, sich selbst mit Waffen und Vorräten für den Tag X, dem Zerfall des Nationalstaats zu wappnen. Im Extremfall werden Institutionen von rechtsradikalen Gruppen unterwandert, um den Niedergang des Staates, dem sie mistrauen, zu forcieren.
In einem 360-Grad-Schwenk zeigt die Kamera eine Installation in Form eines Geschäfts für Prepper-Bedarf von Henrike Naumann, ergänzend können Videos zum Thema angeschaut werden.

Passt einem Bürger seine Staatsangehörigkeit nicht, könnte er sie jederzeit wechseln, gäbe es eine freie Wahlmöglichkeit. James Bridle regt an, diese nicht starr an Territorien, sondern am digitalen Fingerabdruck, den ein Mensch im World Wide Web hinterlässt flexibel festzumachen. Eine Videoinstallation mit ebenfalls flexibel zu gestalteten Möbeln dient der Visualisierung dieser Vision.
Teilnehmer der Ausstellungseröffnung stellen Fragen
Immer wieder fordert Simone Lipski das Publikum auf, aktiv teilzunehmen und Fragen zu stellen. „Was spricht gegen Staatsbürgerschaften, die an Nationen gekoppelt sind“?, fragt ein Teilnehmer. Neddermeyer sieht Bürger in repressiven Staaten klar benachteiligt. Sie sollten sich frei für einen attraktiveren Staat entscheiden können.

Genau diese Idee verfolgt eine andere, interaktive Installation. Auf einem Tablet können Besucher ihre Wunschnationalität eingeben, die sie auf einer Karte aus derzeit 193 Nationalstaaten auswählen können. Gäbe es diese Wahlmöglichkeit, wäre der Staat in der Pflicht, seinen Bürgern etwas zu bieten.

Doch was, wenn Menschen keinen Schutz genießen, weil sie staatenlos sind? Der niederländische Künstler Jonas Staal hat in der autonomen und mehrheitlich von Kurden bewohnten Region Rojava im Norden Syriens, zwischen der Türkei und dem Irak ein Zelt für ein Parlament gebaut und engagiert sich für den Aufbau einer Gesellschaft ohne eigenes Staatsgebiet. Fotos von dem Konstrukt zwischen Kunst und Politik können im Museum betrachtet werden.

Bisher gibt es keine europäische Flüchtlingspolitik
Und was geschieht mit den Millionen Flüchtlingen, die ihr Land verlassen und nirgendwo willkommen sind? Weder die Staaten, aus denen die Menschen flüchten, noch die EU, die keine gemeinsame humanitäre Lösung für das Problem findet, noch angrenzende Staaten haben bislang eine Antwort darauf.
Forensic Oceanography/Forensic Architecture widmet sich in einem Video der zunehmend militarisierten Grenzkontrolle auf dem Mittelmeer und versucht den Fall vom 6. November 2017, in dem bei einer Rettungsaktion 20 Flüchtlinge ums Leben kamen, auch für die juristische Aufarbeitung zu rekonstruieren. Denn das Problem wird verdrängt und das Video soll vor dem Vergessen schützen.
Nach dem einstündigen Rundgang durch die Ausstellung wird eines klar: Noch ist unsere Welt von teilweise unüberwindbaren Grenzen bestimmt. Nur das Virus kennt diese nicht. Wäre es daher nicht an der Zeit, es supranational zu bekämpfen?