Seitdem derjenige, der dann mal weg war, sein Buch über das Wandern auf dem Jakobsweg schrieb, sind literarische Reisebücher in Mode. Vorher wussten die Buchändler nicht, ob sie sowas nun zu den Reiseführer oder zur Belletrisik stellen sollen. Aber seit Hape Kerkeling hat das Genre gar eigens ausgewiesene Regalmeter erobert.

Über zwei diesen Regalen entnommene Bücher diskutieren im Kiesel Joachim Landkammer, Maren Lehmann und Jens Poggenpohl vom „Spirituskreis“ der Zeppelin-Universität mit ihren Gästen: Freddy Langer, Leiter des Reise-Ressorts der FAZ, und Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Gesprochen wird über „Berlin – Moskau: Eine Reise zu Fuß“ (2003) von Wolfgang Büscher und über Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“ (2014).

Apokalypse in der Dauerschleife

Ulrich Raulff stellte den „Atlas“ im liebenden Tiefgang eines Laudators vor. Einen Zyklus von 70 Texten hat Ransmayr geschrieben, zusammengehalten von einem reisenden Erzähler, der jeden Text mit den Worten „Ich sah...“ beginnt. Dieses „Ich sah“ erinnert an Johannes, den Apokalyptiker, und Raulff bemerkt denn auch, das diese rund um den Globus gemachten Beobachtungen an Visionen grenzen. Witz, Ironie, Sexualität – das alles kommt nicht vor. „Selbst die Affen kreischen nur, aber paaren sich nicht“, so Raulff. Es ist eine leidende Welt, die Ransmayr vorstellt. Während die Begegnungen mit Menschen nirgends an Kontur gewinnen, wird dieses Leid durch Tiere greifbar – durch den in der Arena sterbenden Stier, verdurstende Rinder und Pferde, darbende Vögel. Die Texte spannen sich von der Südsee bis nach Tibet. Sie gleichen einer Odyssee. Aber während Odysseus der listenreiche Heimkehrer ist, ist Ransmayrs Erzähler ein ängstlicher Beobachter, der nicht ankommt, sondern Abstand hält. Werkzeug seiner Beobachtungen ist das Fernglas.

Komischer Heiliger in der Arktis

Raulff verkraftet es, dass die Diskutanten Essig in den Wein mischen. Am Stück lesen ließe sich das Buch ja nicht, war man sich ohne Scheu vor dem Profanen einig. Langer gestand, dass er allein für die erste CD der von Ransmayr selbst gelesenen Hörbuchfassung drei Anläufe gebraucht habe, denn „zum pathethischen Ton des Textes kommt da noch der pathetische Tonfall Ransmayrs“. Maren Lehmann bemerkte, dass das Buch durch die wiederkehrende „Ich sah...“-Wendung zur Litanei werde und in der zirkulären Struktur zum mythischen Text. Jens Poggenpohl öffnet dann die Himmelsluke: Man habe den Eindruck, dass dieses „Sehen“ direkt vom Himmel aus geschehe. Der Erzähler also ein Engel, ein Gott, und Ransmayr ein komischer Heiliger? Die saubere Germanistentrennung zwischen dem Autor und dem sprechenden „Ich“ seines Textes wurde zunehmend löchrig, zumal Freddy Langer mit Ransmayr bereits eine Schiffsreise in arktische Kälte unternommen hat, auf der Ransmayr durch auratische Einsamkeit aufgefallen sein muss, ohne die geringste Spur von Humor.

Die Schrecken der Provinz-Kindheit

Trotzdem: Als Ransmayr einst beim Bodenseefestival an Bord der Hohentwiel las, wirkte er keineswegs so unnahbar wie ein vom Berg gestiegener Moses. Aber natürlich sucht man Ransmayr als Person in seinen Texten, weil der „Atlas“ ja auf seinen eigenen Reiseerfahrungen beruht. Seit Jahrzehnten reist dieser Autor wie ein Besessener durch die Welt. Ist es eine Flucht? Ist er „ängstlich“ wie der Erzähler seines „Atlas“? Angst und die daraus resultierende Flucht sei zuletzt eine Reaktion auf ein Gefühl der Enge, meint Ulrich Raulff.

Und ist nicht Ransmayr in Oberösterreich aufgewachsen, in einem Dorf, in kleinen Verhältnissen, in Sichtweite zu einem KZ? Obacht! Hier mehren sich Begriffe, die in der Verkettung dem Klischeebild einer „schrecklichen Provinzkindheit“ nahe kommen, wie weltläufige Intellektuelle es schonmal zeichnen. Ganz sicher jedenfalls sah Ransmayr vom Sandkasten aus keine KZ-Häftlinge hinter Stacheldraht; er wurde ja erst 1954 geboren.

Europa als amerikanisches Autokino

Bodenständiger als Ransmayr ist Wolfgang Büschers Berlin-Moskau-Fußmarsch. In 82 Tagen legte er 2500 Kilometer zurück – vielleicht nur, weil er in der Midlife Crisis steckte, vermutet Freddy Langer, denn Büscher war gerade 50 geworden. Ein Selbsterfahrungstripp, der um die Schrunden an den Füßen kreist, ist aber nicht daraus geworden, sondern ein Extrakt, der die Monotonie nicht ausspart. Tagelang geht Büscher entlang schnurgerader Straßen, ohne Lebenszeichen rechts und links. Er verliert sein Gepäck, weiß oft nicht, wo er sich befindet, macht schicksalsergeben Zufallsbekanntschaften. Er übernachtet bei einem Wahnsinnigen, weht zahllose Prostitierte ab, geht wieder durch industriell verheerte Landschaften, durch Dreck, der übrig blieb von einem sowjetischen Imperium. „Aber will man das nachmachen?“, fragt Joachim Landkammer. „Will man sich das antun?“ Büscher tut es sich an, sagt er selbst, weil Europa ein Autokino sei das immer nur nach Westen sehe. Raulff findet Büscher verdächtig: Er wate durch den Dreck und suche doch tiefromantisch nach der Reinheit. Übertragen aufs Politische denkt Raulff da an Leute, die den Kuddelmuddel der Demokratie zwar mitmachen, für das „Eigentliche“ aber doch was anderes halten.

Büschers Eintauchen in den Dreck hat für Jens Poggenpohl etwas Sinnbildliches, so wie die gesamte Reise gen Osten: „Der Osten ist kein Ort. Osten ist ein Zustand, den keiner haben will. Osten, das ist der unsortierte Müllhaufen der Geschichte.“

Die Schwielen schreiben mit

Maren Lehmann stellt eine ketzerische Frage: Muss man sich überhaupt real auf Reisen begeben, um solche Bücher zu scheiben?“ Sie erntet allgemeine Ratlosigkeit. Ulrich Raulff jedenfalls meint, dass der Rhythmus und die Mühen des Gehens an der Gestalt des Textes mitschrieben. 2500 Kilometer Fußmarsch oder ein Gedankenflug, das ist ein Unterschied. Und Freddy Langer weiß, was Menschen an solchen abenteuerlichen Reisen überhaupt erst reizt: dass in Wahrheit nicht die Reise das Abenteurer sei, sondern der gewöhnliche Alltag. Dieses Durcheinander, in dem hundert Sachen zugleich erledigt werden müssen und dauernd der eigene Fokus abhanden kommt. Auf Reisen fällt all das ab, und es bleibt nur das anvisierte Tagesziel. So gesehen, ist der Reiseabenteurer also auch nur ein Erholungsurlauber.