Eigentlich sei eine Galerie ja nicht der richtige Ort für ihre Schilder, findet Nina Schiertz. Zwar ist sie Künstlerin und trägt als solche den knappen Namen „Ni“, sie ist aber auch eine leidenschaftliche Demonstrantin, die für ihre Überzeugungen auf die Straße geht – und zwar mit ihrer Kunst. Regelmäßig fährt sie mit ihrem Mann, dem Künstler Dschiggetai (Jürgen Schiertz) von ihrem Wohnort in Watteringen (Tengen) zu den Anti-Stuttgart 21-Demonstrationen, von denen die breite Öffentlichkeit keine Notiz mehr nimmt. Ni kann das nicht abhalten. „Wir verstehen ja nicht nur Bahnhof“, sagt sie bei der Vernissage der Ausstellung „Protest“ in der Galerie Lutze. „Es geht um das Prinzip Stuttgart 21 – um das globalisierte Finanzkapital, das systematisch die Lebensbedingungen destabilisiert, ob in Afrika oder im Nahen Osten“, sagt sie.

Bernd Lutze zeigt nun Nis Protestschilder, die sonst ihren Platz im Demonstrationszug haben. „Die Gesellschaft braucht den Protest, denn der hält sie flexibel und – scheinbar – offen“, sagt Ni mit hörbar zweifelnder Einschränkung. Sie sagt aber auch: „Meine Schilder sind mit Wollust frech“. Allerdings ist es eine hintergründige Frechheit, denn Ni verwendet für ihre Schilder Zitate kluger Status quo-Kritiker wie Jean Ziegler oder Jutta Ditfurth. Auch Philosophen, Schriftsteller und Journalisten sind darunter, namentlich Dietmar Kamper, Robert Walser und Gabriele Krone-Schmalz.

„S21 Selbstvergöttlichung“ steht etwa auf jenem Schild, das mit diesem Wort auf einen Rundfunkbeitrag von Dietmar Kamper verweist. Darin sagte er: „Der Mensch möchte die Stelle Gottes einnehmen, er möchte sich und die Welt neu erschaffen, und dabei ist die Technologie nur die Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln, das heißt Herrschaft des Geistes über die Materie durch Wissen, Werkzeuge, Waffen.“ Wenn das Wort „Selbstvergöttlichung“ dann noch in weißer Tafelschrift auf schwarzen Grund geschrieben wird, dann werden die S21-Macher von Ni in ABC-Schützen verwandelt, die Nachhilfeunterricht in Sachen Selbstbescheidung bekommen.

Nis Protestschildkunst erschöpft sich nicht in schlagenden Slogans, sondern verweist auf dahinter stehende Geisteshorizonte und Diskurse. Oft wecken ihre Schilder beim Gegenüber mehr Fragen, als dass sie ihn in seinen Haltungen bestätigen; damit geht Ni über die Grenzen der Demonstrationszug-Logik hinaus, die ja gerade von inhaltlicher Eingängigkeit lebt.

In der Gestaltung und hinsichtlich der Materialien, die Ni benutzt, sind ihre Protestschilder sozusagen Malerei, Collagen und Assemblagen „am Stiel“. Aber zur Kunst werden die Schilder letztlich nicht durch solche Fragen der Arbeitstechnik, sondern durch ihren mit Beuys gedachten sozialen Bezug. Die Beuys-Aussage, dass jeder Mensch ein Künstler sei, versteht Dschiggetai so: „Jeder Mensch hat schöpferische Kräfte. Die muss er einsetzen zum Erhalt unserer Lebensgrundlagen.“ Kreativität, Nachhaltigkeit und Kunst sind miteinander verbunden.

Ohne die soziale Komponente würde Dschiggetais Kunst gar nicht erst zustandekommen. Er zieht schon seit Jahrzehnten durch die Dörfer und Städte, wo seine Bilder entstehen, indem er sie malen lässt - von Passanten nämlich, die Altöl auf Abfallkarton auftragen. Jeder trägt nur ein Element bei, bis hin zum bloßen Strich. Dschiggetais Karton-Bilder spiegeln wider, was die Leute ihm geben. Indem sie nun auch bei Demos entstehen, sind sie inhaltlich unverblümter als noch vor sechs Jahren, bei der letzten Ausstellung in der Galerie Lutze. „Wir sind friedlich“ steht etwa darauf – darunter zeichnet ein anderer eine gereckte Faust; Widersprüche sind Teil der Arbeiten, denn inhaltlich nimmt Dschiggetai keinerlei Einfluss. Er spricht noch nicht mal mit den Menschen, sondern fordert sie mit stummen Gesten zur Aktion auf. Durch die politischen Bezüge werden die Arbeiten auch zu Zeitzeugnissen. „Fukushima strahlt – Die Lügen gehen weiter“ heißt es da; auf einer anderen Arbeit dann Fässer mit dem Zeichen für Radioaktivität.

„Menetekel“ nennt Dschiggetai diese Arbeiten, die auch auf Protestaktionen entstanden sind, bei denen rund um den Bodensee gegen den Verkauf der Wasserrechte demonstriert wurde. Ein Menetekel ist ein Warnruf, der kommendes Unglück ankündigt – und viele dieser Rufe lässt Dschiggetai unaufgedeckt. So sind die Menetekel zu den Wasserrechten in Kartons verstaut, die zwei fast mannshohe Türme ergeben. Stumme Monumente gegen Gefahren, die nicht gebannt sind.

Bis 31. Juli in der Galerie Lutze, Zeppelinstraße 7 in Friedrichshafen. Geöffnet Mittwoch bis Freitag 14 bis 19 Uhr, Samstag 10 bis 13 Uhr.