Ein klassischer Pianist gibt ein Jazzkonzert. Das kann was geben – bestenfalls lauwarmen Swing mit barocken Tastenläufen. Das war mein Gedanke, als Peter Vogel mit seinem Quintett vor einigen Jahren im Rahmen der Langenargener Schlosskonzerte auftrat. Ich wurde eines Besseren belehrt. Peter Vogel hob fast ab an diesem Abend, er improvisierte hoch inspiriert und zügellos, mit geschlossenen Augen und entrücktem Gesichtsausdruck. Außerdem spielte er nur eigene Stücke.
Jazz ohne Kompromisse
Nun liegt Peter Vogels Jazz-CD „Wings“ vor, die er mit denselben Musikern eingespielt hat, und wieder ist der Eindruck wie damals: Vogel lässt sich davontragen. Dem Mann am Flügel wachsen Flügel. Ohne Anwärmphase und ohne Kompromisse legt das Album los, mit einer seiner wildesten Eigenkompositionen: „Birdbrain“, das damals noch „Blödi“ hieß. Elf Minuten, bestimmt von einem foppenden Klavier und dem Haken schlagenden Saxofon von Christian Maurer. Wie ein Kind, das über die Stränge schlägt, wirft das Saxofon jedem, der ihm folgen, der es fangen will, lautmalerisch einen Spottnamen an den Kopf: „Birdbrain“, Spatzenhirn. Nicht zu Unrecht, denn die komplex groovende Bass-Arbeit von Gerd Boelicke und Wolfi Rainers Schlagzeug spannt rhythmische Stolperdrähte, die einen zu Fall bringen. Und das Saxofon zieht davon.
Mit diesem tollkühnen Vollgasjazz ist die Latte gelegt – meint man. Aber Peter Vogel bricht mit den Erwartungen. Sein Album mit 56 Minuten Spieldauer ist wie ein langer Brief, in dem der Schreiber mit jedem Absatz eine andere Facette von sich zeigt. Dazu gehört auch der Gegenpol des aufgedrehten „Birdbrain“: die Ballade „Still“, ein introspektiver Höhepunkt, mit einem Klavier, das sich lose auf die Trois Gymnopédies von Erik Satie bezieht: sparsame und unbestimmbare Klänge, zugleich gelassen und trauernd, über denen der Gesang von Alexandrina Simeon wie eine Wasserfläche liegt: Ruhig, weit und tief in ihren lang gehaltenen Worten, die vom Verglühen einer Liebe sprechen, die vielleicht noch zu retten ist. Aber wer weiß das schon genau.
Da meint man, berührender ginge es nicht, aber es folgt „Different Ways“, wieder nur für Klavier und Stimme. „We are all on the same Ships / of hope and despair. / Loneliness has sealed our lips, though we long to care.“ Archetypische Bilder für eine Lebensreise, in der Isolation und Vergeblichkeit nicht ausbleiben. Alexandrina Simeon gießt sie in eine vollendete elegische Melodie, die ihren sanften Schwung nicht an eitle Schnörkel vergeudet und so ihre ganze Wärme an den Hörer überträgt.
Blues, der in die Knochen fährt
Es spricht für Peter Vogel, mit dieser Ballade nicht hausieren zu gehen, sondern sie fast schon ans Ende zu stellen; als „Earcatcher“ beim flüchtigen Reinhören in das Album ist sie quasi unauffindbar. Und dass „Wings“ so getragen nicht ausklingt, spricht für Peter Vogels Humor – der Rauswerfer ist nämlich so markant, dass man erst mal lächelt: der „Dirty Blues“ fährt einem tüchtig in die Knochen und entwickelt einen unwiderstehlichen Kopfnickergroove, den Peter Vogels rollender Klavierpart nervös und energetisch immer weiter steigert. Wäre der „Dirty Blues“ eine Liveaufnahme, das Publikum würde aus Begeisterung spontan auf den Fingern pfeifen. Dass Christian Maurer sein Saxofon mit einer gewissen Vornehmheit spielt, zieht der Nummer eine zweite Ebene ein und bereichert sie so um ein ironisches Augenzwinkern.
Alle schnellen Stücke des Albums haben Bezüge zum Bop, besitzen aber doch griffige und wiedererkennbare Themen; Ohrwürmer, die keineswegs schwer nachvollziehbar sind. Und gerade dadurch begreift man die ganze Finesse dieser Band, die sich von den Vorahnungen des Hörers fast „kriegen“ lässt – und dann doch in eine neue Richtung springt. Die Musik fordert zum Fangen-Spielen auf und das ist kein Zufall: „Kinderszenen“ nennt Peter Vogel die Stücke „Birdbrain“, „Hannah“ und „On the Ball“ – es sind geglückte Versuche, die Quirligkeit seiner Tochter in Töne zu fassen. Kinderszenen, das ruft natürlich Schumann und Debussy auf, die klassische Musik – von der sich Vogel keineswegs distanziert, wenn er Jazz spielt. Spielerische Bezüge stellt er allerdings so her, dass man sie kaum bemerkt, wie in der Ballade „Dazzling Boy“, die ein Brahms-Thema bearbeitet.
Wie sublimiert Peter Vogels Bezüge zur Klassik in seiner Jazzmusik sind, bemerkt man besonders, wenn er ein verträumtes Solo entwickelt: weil er auf Anklänge an einen lyrischen Sonatensatz verzichtet. Solche „Veredelungsbrücken“ zur Klassik sind im Klavierjazz gängig – Vogel lässt sie ungebaut, geht in seinen Improvisationen subtilere Wege. Und gerade improvisierend baut er eine Verbindung zur Klassik, denn bis in Beethovens Zeiten war die Kadenz, das Solo in einem Ensemblestück, eine freie Improvisation. Dass sie von den Komponisten ausnotiert wurde, lag letztlich auch an Solisten, denen es an Improvisationsgabe fehlte. Freihand formuliert: Schlechte Jazzer waren schuld, dass die Improvisation aus der klassischen Musik verschwand. Mit Solisten von Peter Vogels Kragenweite wäre das damals nicht passiert.
Das Album
"Wings" wurde unter der Regie von Wolfgang Lackerschmid in Augsburg aufgenommen. Die CD enthält neun Stücke, davon vier mit Gesang. Erhältlich ist sie für 20 Euro bei Amazon und bei Peter Vogel unter www.birdmusic.de . (rup)