Am Anfang ist alles zu Ende. John ist tot, und John ist die Schlüsselfigur von Norbert Gstreins neuem Roman „In der freien Welt“ (Hanser-Verlag). John wurde erstochen, in San Francisco, mit 61 Jahren, auf offener Straße – aber von wem und warum? Wieso hat er sich, angeblich, nicht zur Wehr gesetzt? Ausgerechnet John, der nie ein „schwächlicher Jude“ sein wollte und der sich schon als Kind im Supermankostüm malte, um seiner Mutter zu zeigen, dass er sie beschützen konnte? John wuchs zu einem Hünen heran, der 1982 in der israelischen Armee im ersten Libanonkrieg kämpfte und keine Zweifel daran ließ, dass er sich anders als die Generation seiner Eltern nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen würde. John wollte ein „Muskeljude“ sein, wie die ersten Zionisten die idealen Siedler des Staates Israel bezeichneten: einer, der stark genug ist, das Land aufzubauen und es mit der Waffe zu verteidigen.
Norbert Gstrein erzählt das Leben von John nicht aus dem Blauen heraus. John hat ein direktes Vorbild – Gstreins Freund, den amerikanischen Schriftsteller Alan Kaufman. Wer den Namen googelt, findet Fotos eines Mannes, der genauso aussieht, wie John geschildert wird: wilde Haare, ein Frauentyp, ein „später Nachfahre der Beatnik-Autoren“, wie Gstrein seinen John nennt. Mit „In der freien Welt“ hat Gstrein ein Buch geschrieben, das jene Frage provoziert, über die Literatur sich gern erhaben glaubt: Wie viel des Erzählten ist real? Alan Kaufman jedenfalls sei, anders als John, Gott sei Dank noch am Leben, sagt Gstrein im Kiesel. Die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt ist bei Gstrein nicht neu.
Am lautesten klang sie aus der Diskussion über sein Buch „Die ganze Wahrheit“ (2010), das er ebenfalls im Kiesel vorgestellt hatte – kein Schlüssel-, sondern ein „Schlüssellochroman“, ätzten die Feuilletons, der als Abrechnung des Autors mit der „Suhrkamp-Witwe“ Ulla Unseld-Berkéwicz gelesen wurde.
„Ich bemächtige mich auf eine Art der Wirklichkeit, die von manchen für fragwürdig gehalten wird. Von mir nicht“, sagt Gstrein – und da ist er, dieser trockene Schmäh, der auch den Erzählstil seines neuen Romans prägt; eine Nüchternheit, die bisweilen an den „hartgesottenen“ Ton einen John O‘Hara erinnert. Indiskretes aus dem Nähkästchen erzählt Gstrein diesmal jedenfalls nicht. Kaufman habe zugestimmt, als Romanfigur verwendet zu werden, sagt Gstrein. Und Heiterkeit kommt auf im Kiesel, als er anfügt, er habe mit Kaufman sogar zusammengesessen, um zu beraten, wie John denn nun ums Leben kommen soll.
Aber es geht nicht nur um John, sondern auch um Hugo, Johns Freund, und damit wohl um Gstrein höchstpersönlich – denn wie Gstrein selbst ist dieser Hugo ein Schriftsteller aus Österreich. Und da er als Ich-Erzähler des Romans fungiert, versucht Gstrein gar nicht erst, sich um eine schwieriger Grundkonstellation herumzulügen: In Österreich hat man lange so getan, als sei das Land in den Nationalsozialismus hineingezwungen wurden. Und nun schreibt ein Enkel dieser Generation von Österreichern ausgerechnet über einen Zionisten. Wenn da der Ton nicht getroffen wird, sind Verstimmungen fast schon garantiert.
Aber was ist der richtige Ton in Sachen John, dem Soldaten, der gegen syrische Truppen und die PLO ins Feld zog in einer Auseinandersetzung, die selbst von vielen Israelis als israelischer Angriffskrieg gewertet wurde? Gstrein sagt es so: Es sei das eine, über einen bewaffneten Juden zu schreiben; und etwas anderes, diesen Juden zum Täter zu machen. Was er meint, liegt auf der Hand: Ein Deutscher oder Österreicher, der einen Israeli als Araber-Mörder darstellt, muss damit rechnen, einem Volk von Juden-Mördern zugerechnet zu werden. Nun ist Norbert Gstrein niemand, der einem Streit aus dem Wege geht, aber er ist auch alles andere als dumm.
Bei diesem John fragt man sich, wie weit in der Vergangenheit die Ursachen für seinen gewaltsamen Tod wurzeln. Vielleicht bis zum fünfjährigen Jungen, der er war, als er seine Mutter weinend über Fotos ihrer von den Nazis ermordeten Familienmitglieder sitzen sah und der von da ab beschloss, ein Kämpfer zu werden? Mit dieser Familiengeschichte im Rücken findet John nicht unbefangen ins Leben, und sein Weg des Kampfes führt ihn in den besagten Libanonkrieg, den er traumatisiert wieder verlässt. John säuft; er wird Dichter, er wird Maler, aber seine Prägung wird er auch in der Kunst nicht los. Er malt ein „Self-Portrait as a hated jew“, das den „unmittelbarsten Ausdruck seiner Existenz“ darstellt. Ohne dieses Bild wäre die Gedächtnisausstellung, die nach seinem Tod organisiert wird, jedenfalls nicht vollständig.
John ist Selbstverteidiger aus einem Gefühl des Angegriffenwerdens, und vielleicht ist es das, was ihn mit Norbert Gstrein verbindet, der seinerseits für seine Texte wiederholt scharf angegriffen wurde. Wie dem auch sei: „In der freien Welt“ ist kein rührseliger Roman, in dem Hugo und John ihre jeweiligen Wunden lecken. Er steckt voller Streitgespräche, und bei der Lesung bleibt ein Grinsen über die beißend zugespitzten Wortwechsel zwischen den beiden Freunden nicht aus. Trotzdem ist John eine tragische Existenz, seine von ihm selbst angepriesene Kraft hüllenhaft: „Am Ende war alles nur ein Pfeifen im Wald gewesen, ein Versuch, die Gespenster zu verscheuchen, die ihn dann doch immer eingeholt hatten“.