Wegsehen fällt bei diesen Bannern schwer. Traurige, leere Blicke von Mädchen schauen von diesen großformatigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Es sind Mädchen, die ihr Gesicht stellvertretend für jene zeigen, die meistens nicht gesehen werden wollen – Kinder und Frauen, die hierzulande sexuell ausgebeutet und missbraucht werden. Die Bilder hat Fotografin Lena Reiner bereits 2017 mit 20 mutigen Mädchen an der Realschule St. Elisabeth gemacht. Im Oktober 2018 startete die erste Plakataktion dazu in Friedrichshafen.
26 Banner an Bauzäunen
Am Dienstag begann der zweite Teil der Kampagne „not for sale“ – nicht zu verkaufen, weil Menschen keine Ware sind. Zwischenzeitlich waren die aufrüttelnden Banner in Hamburg und Schwerin zu sehen, liefen Aktionen dazu in Bergisch Gladbach, Mainz und Zürich. Friedrichshafen wird längst nicht die Endstation sein, viele weitere Städte auch im Ausland haben Interesse an dieser Aktion.
Nun hängen 26 Banner an Bauzäunen im Fallenbrunnen, am Jugendzentrum Molke oder an der Sportarena – dank Unterstützung der Stadt Friedrichshafen und weiterer Partner. Und sie werden bis ins nächste Jahr hinein für Gesprächsstoff und Auseinandersetzung mit diesem Thema sorgen, hofft zumindest die Initiatorin der Kampagne, Lena Reiner.
Ein Milliarden-Geschäft
Wie nötig das ist, wurde am Mittwochabend bei einer Podiumsdiskussion in der Black Box der Zeppelin-Universität deutlich. Belastbare Zahlen seien schwer zu bekommen, sagte Brigitte Pfrommer-Telge, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt. Das Dunkelfeld ist riesig. Sie sprach von 400 000 Prostituierten in Deutschland, 93 Prozent davon weiblich und die meisten aus Osteuropa stammend. Täglich würden 1,2 Millionen Männer Sexdienstleistungen kaufen und erzeugen einen Umsatz von 14,5 Milliarden Euro jährlich.
Ein Geschäft, von dem die Frauen, die nach ein bis zwei Wochen wieder das Bordell wechseln, am wenigsten profitieren. Es gehe um Beschaffungs- oder Armutsprostitution, das Resultat einer Zwangslage. Und doch sei es „nirgendwo so einfach, eine Frau oder ein Mädchen zu kaufen“, so die städtische Gleichstellungsbeauftragte. Denn trotz eines verschärften Schutzgesetzes für die Frauen seit 2017 ist Prostitution in Deutschland nach wie vor legal. „Sex darf aber keine Dienstleistung sein“, forderte Pfrommer Telge und sprach sich für das nordische Modell aus. In Schweden und vielen anderen Staaten gibt es inzwischen ein Sex-Kauf-Verbot mit Strafen für Freier.

Friedrichshafen gehört mit mehr als 30 000 Einwohnern zu den Städten, in denen Bordelle erlaubt sind. Ein Dutzend davon gibt es und über 200 angemeldete Prostituierte, erzählte eine Streetworkerin der Arkade am Rande der Veranstaltung. Die Sozialarbeit bezahlt die Stadt, hat die halbe Stelle inzwischen sogar auf eine ganze aufgestockt.
Einblick ins Häfler Rotlichtmilieu
Auch hier ist das Dunkelfeld deutlich größer, gehe die Polizei von zwei Dritteln nicht angemeldeter Sexarbeiterinnen aus, von denen viele in Terminwohnungen anschaffen, sagt die Streetworkerin, die sich vor allem um dieses Klientel kümmert. Noch deutlicher wurde Veronika Wäscher-Göggerle, Frauen- und Familienbeauftragte des Bodenseekreises. Prostitution, die sie als „permanente Gewalt gegen Frauen“ beschrieb, gehöre verboten. „Nur diesen Weg gibt es.“ Wie sich die Lage in Friedrichshafen darstellt, habe sie vor Jahren bei einer Polizei-Razzia im Häfler Rotlichtmilieu erlebt, bei der sie dabei sein durfte, um sich selbst ein Bild zu machen.

„Das war für mich der Abgrund“, sagte Wäscher-Göggerle. Viele der Frauen, so ihr Eindruck, waren noch nicht 18 Jahre alt, hätten gefälschte Pässe gehabt, obwohl das nicht beweisbar war. „Das hat mich noch mehr motiviert, dafür zu kämpfen, dass diese Frauen Hilfe bekommen.“ Sie sei der Stadt unglaublich dankbar dafür, dass sie Streetwork für Prostituierte anbiete, wäre aber froh, wenn die Unterstützung weiter ginge, den Frauen einen Wohnung oder Arbeit und damit eine Alternative zum „Anschaffen“ vermittelt werden könne.
Aussteigerin berichtet
„Das Ja zur Prostitution ist das Ja zum Geld, nicht zum Sex“, räumte die 24-jährige Sophie mit gängigen Vorstellungen auf. Sie erklärte am eigenen Beispiel, warum Missbrauch und Gewalt in der Kindheit meistens die Basis für Prostitution sind. Sie stamme aus einer gestörten Familie, kam zu Pflegeeltern, als sie vier Jahre alt war. Mit elf erlebte sie erste sexuelle Übergriffe und wurde mit 14 brutal vergewaltigt.
Und dachte irgendwann, dass es doch ein guter Deal sei, wenn sie für das, was ihr unvermeidlich erschien, wenigstens mit 100 Euro entschädigt werde. „Ich dachte, es sei normal, mir Zuneigung kaufen zu müssen.“ Vor drei Jahren habe sie den Teufelskreis aus Prostitution und Drogen, die bei der Bewältigung der Schmerzen für sie unverzichtbar waren, durchbrochen, Heute wirbt Sophie als Prositutions-Überlebende für das Netzwerk Ella dafür, Sex gegen Geld zu verbieten.
Extremfall Kinderpornografie
Ob das die Lösung ist, um sexuellen Missbrauch zu verhindern, wusste Polizeihauptkommissar Norbert Mohr vom Landeskriminalamt in Stuttgart nicht zu sagen. Er und seine Kollegen arbeiten sich täglich im Darknet durch übelste pornografische- und Missbrauchs-Darstellungen mit Kindern. Seine Motivation: „Täter fassen und so Kinder schützen“, sagte er. So einfach ist das allerdings nicht – nicht nur, weil in Deutschland die Vorratsdatenspeicherung verboten ist und die so ermittelten IP-Adressen keinen Namen zugeordnet werden können. „Wir haben Schwierigkeiten mit der Menge“, so der Ermittler, der unter anderem den Kinderporno-Fall von Stauffen aufklärte.