Es überraschte ihn nicht, dass es zu der Bluttat kam: Wie ein Bewohner der Asylunterkunft in Kressbronn dem SÜDKURIER schilderte, verbreitete ein 31-jähriger Mitbewohner aus Nigeria schon in den vergangenen Wochen Angst und Schrecken. Schon im Mai habe er sie mit einem Messer bedroht, sei nach seiner Festnahme aber kurz darauf schon wieder in der Asylunterkunft eingezogen.

Am Sonntagabend, 26. Juni, kam es schließlich zu einer tödlichen Tat. Der 31-jährige mutmaßliche Täter stach laut Polizeibericht wahllos mit einem Messer zu, tötete einen Mitbewohner aus Syrien und verletzte mindestens fünf weitere Menschen.

Der Mann im roten Shirt erhebt Vorwürfe gegen die Polizei, dass sie den mutmaßlichen Täter nach einer Bedrohung im Mai nicht festsetzten.
Der Mann im roten Shirt erhebt Vorwürfe gegen die Polizei, dass sie den mutmaßlichen Täter nach einer Bedrohung im Mai nicht festsetzten. | Bild: Hilser, Stefan

Die Polizei bestätigte, dass ihnen der mutmaßliche Messerstecher bereits im Mai aufgefallen war, weil er mit einem Messer seine Mitbewohner bedrohte und in der Unterkunft randalierte. Einen Haftgrund sah die Polizei damals nicht. Sie lieferte ihn wegen psychischer Verhaltensauffälligkeiten allerdings im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) ein, wo nach ärztlicher Beurteilung über eine Unterbringung entschieden werden sollte.

Damals sah das medizinische Personal keinen Grund, den 31-jährigen Mann gegen seinen Willen in der Psychiatrie festzuhalten. Aus heutiger Sicht war das eine Fehleinschätzung.

„Es gibt keinerlei Hinweise, dass da etwas falsch gemacht wurde.“Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor.
„Es gibt keinerlei Hinweise, dass da etwas falsch gemacht wurde.“Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor. | Bild: ZfP Südwürttemberg

Aus damaliger Sicht betrachtet

Der Ärztliche Direktor des ZfP in Weißenau, Tilmann Steinert, betont, dass es sich um einen Routinefall gehandelt habe. Aus damaliger Sicht sei also kein Fehler passiert. „Es gibt keinerlei Hinweise, dass da etwas falsch gemacht wurde.“ Wenn man sich den Fall aus der Perspektive des 10. Mai betrachtet, hätten seine Kollegen damals „sehr konsistent“ gehandelt. „Das würde man immer so machen.“

Und aus heutiger Sicht? „Wenn man damals geahnt hätte, was passieren würde, hätte man ihn am besten in eine andere Unterkunft gebracht.“ Ein Wechsel könne – allgemein betrachtet – mögliche Konflikte entschärfen. Wobei unklar ist, ob der 31-Jährige aus einem konkreten Konflikt mit einzelnen Personen heraus handelte oder aus allgemeiner Perspektivlosigkeit und Verzweiflung über seine Lebenssituation.

Warum genau der 31-Jährige zugestochen hat und ob man es hätte verhindern können, werde letztlich erst eine Begutachtung im Rahmen einer Hauptverhandlung vor Gericht klären können, sagt Steinert.

Keine Stellungnahme Steinerts zum konkreten Fall

Mit Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht betont Steinert, dass er auf den Einzelfall nicht eingehen dürfe. In allgemeiner Weise schildert er, wie in so einem Fall im ZfP gehandelt und nach welchen Kriterien über eine Unterbringung entschieden wird.

Grundlage ist demnach das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, das in Baden-Württemberg die Bedingungen regelt, unter denen jemand untergebracht, also gegen seinen Willen festgehalten werden darf. Drei Punkte seien maßgeblich: Dass der Patient psychisch krank ist, dass eine akute Gefahr (zeitnah) von ihm ausgeht und dass das eine mit dem anderen unmittelbar zusammenhängt.

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Tilmann Steinert: „Wir bekommen immer wieder Fälle zugewiesen, bei denen wir nach gründlicher Einschätzung zu dem Schluss kommen, dass hier zwar eine Auffälligkeit vorliegt und aggressives Verhalten, dass das aber nicht die Folge einer psychischen Erkrankung ist.“

Maximal zwei bis drei Tage Zeit für eine Diagnose

Für die Diagnostik habe das ZfP maximal zwei Tage Zeit, wenn ein Wochenende dazwischenkommt, bis zu drei Tage. Im Falle einer Entlassung dürfe das ZfP dritte Personen nicht informieren, also auch die Polizei nicht.

Im Falle des mutmaßlichen Täters von Kressbronn war es demnach so, dass er ohne Kenntnis seines Umfeldes zurück in die Asylbewerberunterkunft fahren konnte. Wie sein Mitbewohner, ein Landsmann von ihm, gegenüber dem SÜDKURIER schilderte, herrschte nach dessen Rückkehr die Sorge, dass der 31-Jährige erneut zum Messer greifen würde. Der Augenzeuge persönlich war gewappnet und schloss sich gemeinsam mit seiner Partnerin im Zimmer ein, als der mutmaßliche Täter am Sonntagabend erneut ausrastete.

Unterschiedliche Tatwaffen im Mai und im Juni

Die Polizei, so die Behauptung des Mitbewohners, habe dem 31-Jährigen damals sogar das Messer wieder mitgegeben. Das aber stimmt nicht, wie die Polizei auf Anfrage versicherte. Die Tatwaffe vom 10. Mai sei bei der Staatsanwaltschaft verwahrt worden und sei nicht das Messer, mit dem am 26. Juni ein Mensch getötet wurde.