Der 19-jährige Samuel Bosch sitzt als Angeklagter in Saal 8 des Amtsgerichts Ravensburg. Er blickt von seinen vor ihm ausgebreiteten Unterlagen auf und sagt zu Richterin Angelika Schneider: „Nein, das wollen wir nicht annehmen.“ Schneider hatte ihm und der ebenfalls angeklagten 20-jährigen Charlie Kiehne gerade die Einstellung des Verfahrens wegen Diebstahls angeboten. „Wir wollen stattdessen beweisen, dass wir unschuldig sind“, erklären die beiden Aktivisten. Vor der Verhandlung kündigten sie bereits an: „Wir wollen das Amtsgericht ein bisschen erziehen.“ Eine Situation, die im Gerichtsaal wohl eher selten vorkommt.

Die Polizei beschlagnahmte in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar mutmaßlich aus Müllcontainern gestohlene Lebensmittel im Auto von ...
Die Polizei beschlagnahmte in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar mutmaßlich aus Müllcontainern gestohlene Lebensmittel im Auto von Charlie Kiehne und Samuel Bosch. | Bild: Samuel Bosch

In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar dieses Jahres ruft ein Mitarbeiter des Burger-Kings in der Ettishofer Straße in Weingarten die Polizei, da zwei Menschen auf dem Müllcontainer des gegenüberliegenden Lidl herumgeklettert sein sollen. Der Zeuge kann den Polizisten auch den Wagen der beiden beschreiben. Als der Wagen zufällig erneut vorbeifährt, folgen die Polizisten und halten ihn an. Im Auto sitzen Samuel Bosch und Charlie Kiehne.

Samuel Bosch und Charlie Kiehne bezeichnen sich selbst als politische Vollzeit-Aktivisten und leben seit etwa einem Jahr in einem Baumhaus im besetzten Altdorfer Wald. „Wir setzen uns durch verschiedene Aktionen zu den Themen Mobilität, Umwelt oder Lebensmittel- und Ressourcenverschwendung für die Rettung des Klimas ein“, erzählt Bosch kurz vor der Gerichtsverhandlung. Die beiden klettern auf Bäume, hängen Banner auf und verteilen kostenlose Lebensmittel. Studieren, glaubt der 19-jährige Bosch, könne er auch noch, wenn die Klimakrise gelöst ist.

Samuel Bosch und Wolfang Ertel, Leiter des Instituts für Künstliche Intelligenz an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, beim ...
Samuel Bosch und Wolfang Ertel, Leiter des Instituts für Künstliche Intelligenz an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, beim gemeinsamen Protest im Mai 2021 gegen den hohen Energieverbrauch der Hochschule. | Bild: Igor Chernov

In jener Februarnacht finden die Beamten im Kofferraum des Autos Lebensmittel, mehrere Kisten und einen Einkaufswagen. Das wird einer der Polizisten später auch vor Gericht aussagen. Einige der Lebensmittel konnten umliegenden Supermärkten zugeordnet werden, das Verfallsdatum war überschritten. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegen Bosch und Kiehne lautet: gemeinschaftlicher Diebstahl.

Angeklagte schon mehrfach vor Gericht

Vor Gericht vertreten sich die beiden selbst. Sie haben mehrere Argumentationsketten und Beweisanträge vorbereitet, Unterlagen und Laptop dabei. „Wir haben uns im Vorfeld mit einem Anwalt beraten, aber wir kennen uns bei den Paragrafen, die uns selbst öfter betreffen, inzwischen gut aus“, berichtet Aktivist Bosch von früheren Erfahrungen vor Gericht. Diese Erfahrung merkt man den beiden an. Sie wirken vor Verhandlungsbeginn keineswegs aufgeregt, eher ruhig und entspannt. Sie lachen sogar viel. „Wir sehen das auch als Chance, um die Aufmerksamkeit auf das Thema Lebensmittelverschwendung zu lenken“, erklären sie ihre Vorfreude.

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Die Angeklagten hatten daher auch im Vorfeld des Prozesses mit Pressemitteilungen darauf aufmerksam gemacht. Ihr Ziel: Ein Essenretten-Gesetz, das das Wegwerfen von Lebensmittel für Supermärkte verbietet und Containern legalisiert. „Die großen Märkte müssen gezwungen werden, diese Lebensmittel an soziale Einrichtungen weiterzugeben“, sagen sie. „Es sei verrückt, dass Steuergelder darauf verschwendet werden, einen sinnfreien Prozess wegen des Diebstahls von Müll zu führen“, so Charlie Kiehne vor der Verhandlung.

„Die großen Märkte müssen gezwungen werden, diese Lebensmittel an soziale Einrichtungen weiterzugeben“, sagt Samuel Bosch.
„Die großen Märkte müssen gezwungen werden, diese Lebensmittel an soziale Einrichtungen weiterzugeben“, sagt Samuel Bosch. | Bild: Cian Hartung

Die Lebensmittel hätten für die Supermärkte schließlich keinen Wert mehr. Rund ein Drittel aller Lebensmittel würde im Müll landen, so die beiden Angeklagten. Alleine in Deutschland seien es etwa zwölf Millionen Tonnen jährlich, was auch das Umweltbundesamt bestätigt. Weltweit würden laut Welthandelsorganisation rund 828 Millionen Menschen hungern, verlesen die beiden kurz darauf im Saal ein vorbereitetes Statement.

Containern

Kann die Staatsanwaltschaft den Diebstahl beweisen?

Unabhängig von der politischen Botschaft der beiden Umweltschützer, Containern zu legalisieren, wollen sie im Gericht beweisen, dass sie genau das gar nicht getan haben. Sie empfinden es als ein „Unding“ und „fast schon skandalös“, dass die Staatsanwaltschaft sie ohne ausreichende Beweise anklage. Dabei hätten sie laut Strafbefehl lediglich eine Verwarnung bekommen sollen, keine Geldstrafe. Den lehnten sie jedoch ab, sie wollten vor Gericht, um ihre Unschuld zu beweisen.

Daher stellen die beiden Angeklagten dort mehrere Beweisanträge, wollen eine Tatortbegehung, weitere Zeugen vorladen und Quellen zur legalen Lebensmittelbeschaffung aufzeigen. Das Gericht wird sich nun erneut mit dem Fall beschäftigen müssen – und zwar am 28. Juli. Denn bis dahin vertagt Richterin Angelika Schneider den Prozess schließlich, um in Ruhe alle Anträge der Aktivisten prüfen zu können.

Die beiden Angeklagten Charlie Kiehne und Samuel Bosch verteilen vor ihrem Prozess gegenüber des Amtsgerichts Ravensburg erneut ...
Die beiden Angeklagten Charlie Kiehne und Samuel Bosch verteilen vor ihrem Prozess gegenüber des Amtsgerichts Ravensburg erneut kostenlos „gerettete Lebensmittel“. | Bild: Mario Wössner

Aktivisten verteilen „gerettete“ Lebensmittel vor dem Gericht

Doch auch die Staatsanwaltschaft hätte der Verfahrenseinstellung ohnehin nicht zugestimmt – wegen fehlender Läuterung bei den Aktivisten. Ein Anzeichen dafür, steht direkt gegenüber des Gerichtsgebäudes: ein kleiner Stand. Es gibt grüne Gurken mit braunen Schrammen, nicht mehr ganz frische Bananen, altes Brot und sogar eine Flasche Wein. Bosch und Kiehne verteilen dort gemeinsam mit Unterstützern erneut Lebensmittel – laut eigener Aussage wurden die „aus Containern gerettet“.

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