Frau Kastl, Sie sind eine Frau, die trans ist – also eine Frau, der bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde. Wie war Ihr Weg?

Es ist ja nicht so, dass man sagt: So, jetzt bin ich eine Frau, die eben trans ist. Man muss erstmal beweisen, dass man ist, wer man ist. Da braucht es Gerichtsgutachten, Bestätigungen von Krankenkassen – es ist also immer ein Kampf, seine eigene Identität in der Öffentlichkeit und in der Gesellschaft anerkannt zu bekommen. Das ist ein sehr langer, schwieriger Weg, der immer noch von Diskriminierung und dem andersartig Sein bestimmt ist. Mittlerweile bin ich angekommen, leiste aber immer noch eine gewisse Aufklärungsarbeit.

Sie arbeiten als Entwicklerin in der IT-Branche, also mit vielen Männern. Erfahren Sie dort Offenheit oder Diskriminierung?

Die IT-Szene ist ja von stetiger Veränderung geprägt und dort arbeiten Menschen, die gewohnt sind, in abstrakten Mustern zu denken – und mit Variablen umzugehen. In der virtuellen Welt ist man beispielsweise ja mit Avataren, diesen Profilbildern, unterwegs, die sich ständig verändern. Dahinter steckt zwar immer dieselbe Person, sie tritt aber in anderer Erscheinung auf. Diese Denke lässt sich gut auch aufs echte Leben übertragen, daher erfahre ich viel Offenheit.

Sie leben in Stuttgart, unterstützen aber von dort aus das Gesundheitsamt Bodenseekreis. Was genau machen Sie denn da?

Wir sind ein Team aus der IT im Landratsamt, dem Gesundheitsamt und der Firma, bei der ich arbeite – und wir haben gemeinsam im August beschlossen, die Zettelwirtschaft des Kontaktpersonenmanagements, das es in der ersten Welle noch gab, in der zweiten Welle abzuschaffen. Es war absehbar, dass das mit steigenden Infektionen so nicht mehr funktioniert. Wir haben dann das digitale Kontaktpersonenmanagement quasi von Null an aufgebaut.

Angenommen, ich habe einen positiven PCR-Test, bin also mit dem Coronavirus infiziert. Wie funktioniert die Kontaktnachverfolgung?

Ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts meldet sich telefonisch. In der ersten Welle hätte er abgefragt, mit wem Sie zusammen gewesen sind, wen sie wo in welchen Situationen getroffen haben. Er hätte das alles aufgeschrieben und die Kontakte angerufen. Heute funktioniert das digital. Der Mitarbeiter ruft an, Sie bekommen aber einen Code und einen Link zugesendet und können Ihre Kontakte digital – samt Daten – selbst angeben. Dafür gab es ja keine bestehenden Systeme, das musste alles erst aufgebaut werden – und wird nun kontinuierlich weiterentwickelt.

Es hieß ja lange, die Inzidenzen dürfen auch deshalb nicht über 50/100.000 Einwohner steigen, weil die Gesundheitsämter dann keine Kontakte mehr nachverfolgen können. Ist das immer noch so?

Die Situation im Gesundheitsamt hat sich schon stark verbessert durch die Digitalisierung der Prozesse. Man kann Kontakte auch bei höheren Inzidenzen nachverfolgen, aber irgendwann kommt man in einen Bereich, in dem es einfach nicht mehr geht, weil an jedem Fall eine Menge Kontaktpersonen hängen, beruflich, in der Freizeit – und die muss man dann nachverfolgen können. Irgendwann ist auch im besten digitalisierten Gesundheitsamt das Ende der Fahnenstange erreicht.

Wir blicken oft staunend auf Asien, wo digitales Kontaktmanagement, Contact Tracing, ja sehr etabliert ist. Gibt es Schattenseiten?

Es gibt generell natürlich einen Widerspruch zwischen Datenschutz und Infektionsschutz: Man braucht in diesem Moment aufgrund eines begründeten Risikos sehr sehr viele sehr sensible Gesundheitsdaten. Wen hab ich getroffen? Mit wem war ich auch in Kontakt? Das sind vielleicht auch sehr intime Kontakte und etwas, was man ungern preis gibt. Allerdings gibt man es ja preis aufgrund eines Risikos und in einem gut abgesicherten Bereich von Menschen im Gesundheitsamt ab, die jeden Tag damit zu tun haben. Das Problem, was da entstehen kann, ist, dass man dadurch ein Gefühl schaffen kann, dass es okay ist, diese Datenerfassung weiterzutreiben und dass es in Zukunft okay sein könnte, diese Daten immer wieder abzufragen. Das ist es aber nicht. Gesundheitsämter sind nicht dafür da, Vorratsdatenspeicherung zu betreiben, sondern sie fragen diese Daten aufgrund eines ganz bestimmten Risikos zu einem ganz bestimmten Zweck an. Die Datenerfassungsstrukturen, die wir jetzt wegen der Pandemie aufgebaut haben, reißen wir wieder ein, wenn die Pandemie ausläuft.

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Sie gehen in den Biergarten. Nutzen Sie die Luca-App oder Stift und Zettel?

Ich würde Stift und Zettel nehmen. Ich persönlich nutze die Luca-App nicht, weil ich eben auch weiß, wie kaputt das System ist. Ich war mehrfach am Aufdecken von Sicherheitslücken beteiligt. Es gibt beispielsweise den Luca-Schlüsselanhänger, mit dem man sich per QR-Code einchecken kann. Daraus war es möglich, Bewegungsdaten abzulesen und es war auch möglich, in die Luca-App einen Schadcode einzuführen, mit dem man Gesundheitsämter angreifen konnte.

Mit der Luca-App kann man zum Beispiel in Restaurants einchecken.
Mit der Luca-App kann man zum Beispiel in Restaurants einchecken. | Bild: Cian Hartung

Die Bundesländer investieren in die Luca-App mehr als 20 Millionen Euro. Wie können dann solche Pannen passieren?

Wenn man ein Produkt mit einem guten Marketing verkauft, das noch nicht bereit ist für den Markt, und die sauberen Entwicklungsstrukturen wie etwa Qualitätskontrollen oder Audits noch nicht hat, kann das passieren. Dieses System ist deutschlandweit aktiv, das muss kontinuierlich bei jeder Veränderung geprüft werden, denn man kann großen Schaden damit anrichten. Da etliche Bundesländer, wie auch Baden-Württemberg, Luca empfehlen, gibt es kaum Alternativen zu dieser App. Außer eben Stift und Zettel. Das ist schon sehr bedauerlich.

Die Corona-Pandemie neigt sich – zumindest in EU-Ländern – offenbar bald dem Ende zu. Sind wir für weitere Pandemien digital besser gerüstet?

Es wäre schon wichtig, sich nach der Pandemie klar zu machen: was hat funktioniert, was weniger? Die nächste Pandemie kommt schneller als man denkt und die Digitaltechnik dazu wird sich bis dahin auch weiterentwickeln. Aber die Prinzipien dahinter, die sollte man als Erfahrungsschatz konservieren und wenn möglich vorbereiten für die nächste Pandemie. Unsere Fehlerkultur in Deutschland ist allerdings nicht flexibel genug, um sich ganz klar einzugestehen: Wir haben einige Dinge wirklich verschlafen, beispielsweise die Check-Ins in Geschäfte, Restaurants. Das hätten wir vor einem Jahr schon haben können. Damit das nicht noch einmal passiert, sollten wir jetzt damit beginnen, daran zu arbeiten und vorausschauend zu agieren. Leider denke ich, das wird in Deutschland so nicht passieren.

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